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Der Traum von Europa droht zu platzen

Senada Sokollu7. April 2014

Während ein innenpolitsicher Skandal den nächsten jagt, verliert die Türkei einen EU-Beitritt immer mehr aus dem Fokus. Welche Zukunft haben die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei? Diskutieren Sie mit uns.

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Ein Demonstrant schwenkt eine Flagge in Istanbul (Foto: Getty Images)
Bild: Gurcan Ozturk/AFP/Getty Images

Seit einem Jahr befindet sich die Türkei in einer der schlimmsten innenpolitischen Krisen seiner jüngeren Geschichte. Begonnen mit den landesweiten Gezi-Park-Protesten und heftigen Polizeiinterventionen bis hin zum Korruptionsskandal der türkischen Regierung. Die YouTube- und Twitter-Sperre tat ihr Übriges, das Ansehen der Türkei in der Welt und vor allem in der EU zu zerstören. Das Ergebnis der Kommunalwahlen (30.03.2014) war daher für viele eine große Überraschung. 46 Prozent der Stimmen gingen an die islamisch-konservative Regierungspartei AKP - allen Skandalen zum Trotz. Grund genug für die EU, verbal an seinen Beitrittskandidaten zu appellieren. "Aufgrund der besorgniserregenden Entwicklungen, die in den letzten drei Monaten in der Türkei stattfanden, muss die Türkei jetzt die Reformen wiederaufnehmen, um den EU-Standard zu erreichen", so eine Sprecherin der EU-Kommission.

Erdogans Reaktion auf solche Aussagen und Warnungen fielen zuletzt immer selbstbewusster aus - und gleichgültiger. "Die Finanzkrise, die globale Krise, der arabische Frühling und die Ereignisse in Syrien und Ägypten zeigen, dass die Europäische Union die Türkei mehr braucht als die Türkei die EU", erklärte er im Februar in Berlin. Auch in Bezug auf die Twitter-Sperre wetterte der Premier gegen die internationale Gemeinschaft. "Mir ist es egal, was die internationale Gemeinschaft dazu sagt. Jeder wird die Macht der türkischen Republik erleben", so Erdogan. Dass das aktuelle Wahlergebnis das Selbstbewusstsein des Premiers nun noch zusätzlich stärken wird, daran zweifelt kaum jemand.

Interesse an der EU nimmt ab

Der türkische Premier Erdogan zu Besuch bei EU-Kommissionspräsident Barroso (Foto: Reuters)
Der türkische Premier Erdogan zu Besuch bei EU-Kommissionspräsident BarrosoBild: Reuters/Francois Lenoir

Die Türkei ist seit 2005 offizieller EU-Beitrittskandidat. Doch im Land selber scheint das Interesse an Europa abzunehmen. Das wird unter anderem mit dem Ergebnis der "Transatlantic Trend"-Umfrage deutlich. Demnach befürworten 44 Prozent der türkischen Befragten eine EU-Mitgliedschaft. Im Jahr 2004 waren es noch 73 Prozent. Jeder Dritte spricht sich gegen einen EU-Beitritt aus, zehn Jahre zuvor waren es lediglich neun Prozent.

Grund dafür ist für Viele der lange Beitrittsprozess. "Kein europäisches Land hat jemals so lange gebraucht, um Mitglied zu werden. Sogar nach all den Jahren haben wir keine bessere Aussicht, ganz im Gegenteil: Die Situation verschlechtert sich zunehmend", so eine Jurastudentin der Bilgi-Universität in Istanbul im DW-Gespräch. Früher sei die 24-Jährige absolute Pro-Europäerin gewesen. Jetzt zweifele sie zunehmend. "Uns will die EU doch sowieso nicht, und dieser Ansicht sind viele meiner Mitstudenten." Vor allem nach den innenpolitischen Skandalen scheinen die türkischen Bürger noch hoffnungsloser zu sein als zuvor. "Kann die EU jetzt überhaupt noch so tun, als ob eine Perspektive zur Aufnahme in die EU existiert?", twittert ein Internet-User. "Ich hoffe die Türkei wird der EU in den nächsten Jahren beitreten. Das würde es einfacher machen, hier zu leben", hofft ein anderer.

Für "erfolgreiche Geschäftsmänner" sei vor allem die wirtschaftliche Situation der Türkei ein Grund dafür, dass das Interesse an der EU schwindet, erklärt Güclü Gencer. Gencer gehört selbst zu den Topunternehmern der Türkei. "In den letzten zehn Jahren hat sich die türkische Wirtschaft stark entwickelt. Die EU dagegen hatte mit der Wirtschaftskrise zu kämpfen", so Gencer im DW-Gespräch. Die EU wolle der Türkei ohnehin nicht zu- oder absagen, sondern die guten Beziehungen einfach nur aufrecht erhalten, sagt der junge Unternehmer. "Es gibt doch ohnehin schon Handelsabkommen zwischen der EU und der Türkei. Außerdem denke ich, dass die EU mehr von der Türkei profitiert als umgekehrt. Die Türkei hat eine enorm wichtige strategische Lage. Darauf wird die EU nie verzichten."

Innenpolitische Krise steht im Fokus, nicht die EU

Die EU sei momentan tatsächlich nicht sonderlich beliebt im türkischen Volk, so Senem Aydin, Politikwissenschaftlerin an der Bilgi-Universität in Istanbul, gegenüber der DW. "Das liegt unter anderem an den vagen Versprechungen seitens der EU und dem ungewöhnlich langen Beitrittsprozess. Das Volk glaubt nicht mehr, dass die EU es ernst meint mit dem Beitritt der Türkei, vor allem weil die Türkei ein überwiegend muslimisch besiedeltes Land ist. Sie sind der Auffassung, dass die Türkei alle Kriterien erfüllen kann, aber am Ende dann trotzdem nicht Mitglied wird", so Aydin. Sogar die türkische Elite, die immer den EU-Beitritt wollte, verliere das Ziel ein wenig aus den Augen. "Das liegt aber vor allem an der innenpolitischen Situation. Die säkulare türkische Elite kämpft ums politische Überleben, um den Erhalt ihrer übriggebliebenen Macht. Die EU ist aus dem Blickfeld, sowohl für die türkische Öffentlichkeit als auch für die türkische Elite." Erdogans Politik sei außerdem anti-europäisch, so Aydin. "Er hat das Ziel schon lange aus den Augen verloren, als er merkte, dass ein EU-Beitritt nicht förderlich ist, um sich innenpolitisch zu profilieren. Ich denke nicht, dass Erdogan noch motiviert ist, mit der EU zu verhandeln."

Es sei trotzdem zu früh, um vom Ende des Europatraums zu sprechen. "Die Türkei geht momentan durch eine sehr unsichere Periode aufgrund der innenpolitischen Probleme. Die Aufmerksamkeit auf die Außenpolitik ist sehr gering. Die Beziehungen zu der EU hängen also teilweise auch davon ab, wie sich die türkische Innenpolitik entwickelt." Solange die offiziellen Verhandlungen weiterliefen, so Aydin, sei "die Aussicht auf eine EU-Kandidatur weiterhin gegeben".