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Jeder versteht etwas anderes darunter

Anja Fähnle20. September 2013

Wer dieses Thema links liegen lässt, den bestrafen die Wähler. Das bekamen CDU und SPD schon bei der Bundestagswahl 2005 zu spüren. Jetzt haben es alle Parteien auf der Agenda. Aber treffen sie damit den richtigen Nerv?

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Die Statue der Justitia, der Göttin der Gerechtigkeit, steht mit der Waage und dem Richtschwert in der Hand auf dem Römerberg zwischen roten Fahnen hinter einem Transparent mit der Aufschrft "Weg mit Hartz IV und Agenda 2010" bei der Mai-Demonstration des DGB am 1. Mai 2008 in Frankfurt am Main, Foto: Wolfram Steinberg dpa
Bild: picture-alliance/dpa

"Soziale Gerechtigkeit ist für mich reine Wahlpropaganda, da sich sowieso nicht viel ändert. Reiche bleiben reich, Arme bleiben arm," sagt die 77-jährige Pensionärin Irmtrud S. "Für soziale Gerechtigkeit sind alle Leute und alle Parteien", meint ihr 80-jähriger Lebensgefährte Johann S. "Für mich bedeutet es, dass jeder Mensch von seiner täglichen Arbeit leben können sollte."

Der Begriff soziale Gerechtigkeit ist vielschichtig und jeder versteht etwas anderes darunter, so Michael Sommer vom Institut für Demoskopie Allensbach. In einer Untersuchung seines Instituts Ende 2012 und Anfang 2013 kam heraus, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung unter sozialer Gerechtigkeit vor allen Dingen Chancengerechtigkeit versteht.

"Das heißt, dass jeder unabhängig von seiner sozialen Herkunft, von seinem Geschlecht, die gleichen Chancen im Beruf, bei der Bildung und in der Ausbildung hat. Danach folgen Leistungs- und Familiengerechtigkeit" und erst ganz am Ende gehe es darum, wie gerecht staatliche Leistungen verteilt würden, erläutert Projektleiter Sommer.

Grafik: Was ist gerecht? Gerechtigkeitsbegriff- und wahrnehmung der Deutschen, Grafik von Per Sander DW, Quelle: Allensbacher Archiv

Der Politikwissenschaftler Frank Nullmeier von der Universität Bremen beobachtet den Umgang der Parteien mit den klassischen Fragen sozialer Gerechtigkeit schon seit vielen Jahren. Er hat eine simple Erklärung, warum das Thema in diesem Wahlkampf so populär ist: "Das sind die etwas verzögerten Folgen der Finanzmarktkrise 2008 und der europäischen Währungsunionskrise. Man kann heute dem Thema 'soziale Folgen des Marktes' nicht ausweichen. Die Vermögensungleichheiten in Deutschland und auch in den anderen Ländern sind so groß, dass man dazu als Partei Stellung nehmen muss." Und das tun die Parteien auch.

Die soziale Ausrichtung der CDU

Für Arbeitsministerin Ursula von der Leyen ist soziale Gerechtigkeit "ein Ur-CDU-Thema". Die CDU-Politikerin setzt sich in der Unionspartei für den gesetzlichen Mindestlohn ein. In ihrer Geschichte der 50er, 60er Jahre sei die CDU/CSU eine Sozialstaatspartei, erläutert der Bremer Politologe Nullmeier. Es habe in der Partei immer einen starken sozialpolitischen Flügel gegeben, die sogenannten Sozialausschüsse. "Die haben wieder Einfluss gewonnen und mit Frau von der Leyen ist auch eine Person da, die die soziale Ausrichtung der CDU wieder verkörpert", so Nullmeier.

Prof. Dr. Frank Nullmeier, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bremen, Foto: DW von privat
"Reformen der Regierung Schröder schwächen SPD", sagt der Politikwissenschaftler NullmeierBild: privat

Ursprünglich ist soziale Gerechtigkeit ein Kernthema der SPD. "Wir sind die Einzigen, die ein breites Bündnis zwischen den Starken und den Schwachen schmieden können. Wir wollen die Schere zwischen Arm und Reich wieder schließen", sagt SPD-Politiker Thomas Oppermann im Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung.

Allerdings wirken sich für die Sozialdemokraten immer noch die Reformen der Sozialsysteme und am Arbeitsmarkt, die die Regierung Schröder aus SPD und Grünen mit der Agenda 2010 und Hartz IV durchgeführt hat, negativ aus. "Sie haben die Kraft des sozialen Gerechtigkeitsversprechens gebrochen und man weiß nicht, ob die SPD nun wieder einen Kurswechsel vornimmt oder ob ein merkwürdiger Kompromiss zwischen Agenda 2010 und einer Rückwendung zur sozialen Gerechtigkeitsforderung stattfindet. Das schwächt die Partei", meint Nullmeier.

"Wir wissen, wie soziale Gerechtigkeit geht"

Bündnis 90/Die Grünen setzen sich in ihrem Wahlprogramm für mehr soziale Gerechtigkeit ein. Dazu gehören laut Spitzenkandidat Jürgen Trittin etwa die Einführung eines allgemeinen Mindestlohns von 8,50 Euro und eine höhere staatliche Unterstützung für Langzeitarbeitslose. "Wir wissen, wie soziale Gerechtigkeit geht", sagt selbstbewusst Grünen-Fraktionschefin Renate Künast.

Die Liberalen haben einen anderen Schwerpunkt: "Wir brauchen mehr Leistungs- und Chancengerechtigkeit, keine weiteren Belastungen der Mittelschicht. Ein Land ist dann gerecht, wenn persönlicher Aufstieg durch gute Bildung, nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängt", so Außenminister Guido Westerwelle im Interview mit der Bild-Zeitung.

Eine Schere, auf deren Klingen die Begriffe Arm und Reich stehen, Foto: picture-alliance/dpa
Alle Parteien wollen die Schere zwischen Arm und Reich schließenBild: picture-alliance/dpa

Und die Linken ziehen in den Bundestagswahlkampf mit dem Motto "100 Prozent Sozial". Sie wollen mehr soziale Gerechtigkeit bei Steuern, Renten und Arbeitslosenhilfe. "Als soziale Alarmanlage in diesem Land" werde ihre Partei gebraucht, so die Ko-Vorsitzende der Linkspartei Katja Kipping.

"Die Gerechtigkeitslücke hat in den letzten Jahren zugenommen"

Fast 70 Prozent der Bevölkerung ist laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach davon überzeugt, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland nicht gerecht sind und dass der Unterschied zwischen Arm und Reich in den letzten Jahren größer geworden ist.

Zwei Drittel der Bürger macht die Politik für diese Ungerechtigkeiten verantwortlich. "Das Ergebnis dieser Studie heißt, dass insbesondere die Politik gefordert ist, diese Erkenntnisse, die wir herausgefunden haben, noch stärker in ihren politischen Programmen zu berücksichtigen und später auch umzusetzen", sagt Michael Sommer vom Meinungsforschungsinstitut Allensbach.