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Der Opfermythos des Radovan Karadzic

Nils Neubert7. Oktober 2014

Der Prozess gegen den früheren bosnischen Serbenführer Radovan Karadzic ist in der Endphase. Vor dem Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien erklärt er sich für unschuldig - und attackiert die Ankläger.

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Radovan Karadzic vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag - Foto: Michael Kooren (AFP)
Bild: Michael Kooren/AFP/Getty Images

Eigentlich sei er doch ein Freund der Kroaten und der Muslime in Bosnien und Herzegowina, sagte Radovan Karadzic vor dem Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. Nur hätte er diese Freundschaft nicht über die Verpflichtungen gegenüber seinem serbischen Volk stellen können. Im Bosnien-Krieg kamen mehr als 100.000 Menschen ums Leben. Mehr als zwei Millionen wurden zwischen 1992 und 1995 zeitweise oder dauerhaft vertrieben. Sicherlich tragen Karadzic oder die bosnischen Serben nicht alleine die Verantwortung für die Folgen und alle Verbrechen dieses Krieges. Die Strafankläger des UN-Tribunals haben das auch nie behauptet. Doch Karadzic wirft ihnen genau das vor. Vor Gericht gibt sich der frühere bosnische Serbenführer als Opfer einer Verschwörung.

Die Umsetzung der "ethnischen Säuberung"

Tatsache ist, dass Radovan Karadzic als der mächtigste Kriegsherr in Bosnien und Herzegowina galt. In seiner Funktion als Präsident der sogenannten "Republika Srpska", dem serbisch dominierten Teil des Landes, war er neben dem militärischen Anführer der bosnischen Serben, Ratko Mladic, die treibende Kraft hinter der politischen und militärischen Mobilisierung der bosnischen Serben. Und genau dies möchte die Anklage auch belegen. 50.000 Seiten Prozessakten füllt die Anklageschrift bisher, mehrere hundert Zeugen wurden angehört und zehntausende Beweise gesammelt.

Grabsteine der Opfer des Massakers von Srebrenica - Foto: Emir Musli (DW)
Friedhof und Denkmal für die Opfer des Massakers von SrebrenicaBild: DW/E.Musli

Die Ankläger bemühen sich, nicht den Eindruck zu erwecken, dass hier irgendeine Art von "Siegerjustiz" praktiziert wird. Der Vertreter der Anklage, Alan Tieger, führte minutiös auf, wie beispielsweise die sogenannte "ethnische Säuberung" betrieben wurde: In Städten und Ortschaften, in denen neben Serben auch Muslime und Kroaten lebten, wurden alle nichtserbischen Bürger in Scheunen, Fabriken und leer stehenden öffentlichen Gebäuden zusammengetrieben. Frauen wurden systematisch vergewaltigt, Männer in vielen Fällen sofort erschossen. Mit drastischen Worten beschrieb Tieger die Zustände in den Lagern von Omarska, Keraterm und Trnopolje in der Nähe der Stadt Prijedor: "In Omarska waren Frauen, die tagsüber die Überreste und das Blut der getöteten Gefangenen säubern mussten und die dann nachts vergewaltigt wurden. Die Gefangenen mussten ständig ihren Tod befürchten." So seien bei einer Gelegenheit 180 von ihnen auf einmal ermordet worden.

Erdrückende Anschuldigungen, keine Reue

Die vom Ankläger Alan Tieger geschilderten Ereignisse aus den Lagern in der Umgebung der Stadt Prijedor haben sich an vielen anderen Orten wiederholt. Das Massaker von Srebrenica, bei dem bosnisch-serbische Soldaten und Polizeisonderkräfte etwa 8000 bosnische Muslime umbrachten, zumeist erwachsene Männer und männliche Jugendliche, ist in die Geschichte eingegangen als der schlimmste Akt eines Völkermordes in Europa seit den Verbrechen der deutschen Nationalsozialisten und der Wehrmacht. Die Anklage lastet Karadzic das Massaker genauso an, wie auch die fast vier Jahre lang andauernde Belagerung von Sarajevo, als die Bevölkerung durch Scharfschützen und Granatenbeschuss von serbischen Stellungen rund um die Stadt terrorisiert wurde.

Doch all das scheint Karadzic vor Gericht nicht zu berühren. Er behauptet, die Anklage versuche, das Tribunal zu täuschen. "Das serbische Volk ist angeklagt", sagte der 69-Jährige vor Gericht. Auch diese Argumentation konnte die Prozessbeobachter nicht überraschen. Bereits im Jahr 1995 hatte der US-Geheimdienst CIA mehrere Dokumente über die Akteure des Bosnien-Krieges anfertigen lassen. Die Schriftstücke wurden im vergangenen Jahr freigegeben. Darin wird auch Radovan Karadzic beschrieben: "Er ist, wie die meisten Serben, vom Opfermythos des serbischen Volkes betroffen." 25 Jahre später scheint Karadzic diese Auffassung des CIA-Analysten durch seine Auftritte vor dem Tribunal in Den Haag zu bestätigen.

Ein Mann schaut 2002 auf die Fahndungsplakate mit Radovan Karadzic und Ratko Mladic - Foto: Fehim Demir (EPA)
Fahndungsplakate in Bosnien (2002): Karadzic wurde jahrelang gesuchtBild: picture alliance/dpa

Tarnung als Wunderheiler

Die Anklage gegen Radovan Karadzic hatte das UN-Tribunal bereits 1996 erhoben. Das war ein Jahr nachdem im US-Städtchen Dayton in Ohio der Frieden zwischen bosnischen Kroaten, Serben und Muslimen ausgehandelt wurde, um den blutigen Bosnien-Krieg zu beenden. Dennoch sollte es bis 2008 dauern, bis Karadzic vor Gericht gestellt wurde. Ein Urteil wird 2015 erwartet. Bevor er in der serbischen Hauptstadt Belgrad gefasst wurde, hatte Karadzic dort mehrere Jahre unbehelligt gelebt. Seine falsche Identität war so skurril wie bezeichnend - als spiritueller Guru mit dem Namen Dr. Dragan David Dabic, mit langem Bart und dem Haar zu einem Zopf gebunden, hatte er Hilfe suchenden Menschen Heilung versprochen. Er ähnelte keineswegs dem "Herren über Leben und Tod", wie er während des Bosnien-Krieges oftmals bezeichnet wurde. Es war aber auch nicht seine erste Verwandlung im Leben: Vor dem Krieg war er Psychiater und hatte eine eigene Praxis. Sein Fachgebiet waren Neurosen und Depressionen.