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Der NSA-Skandal und deutsche Traumata

Carla Bleiker10. Juli 2013

Seit Wochen ist die Datenspionage der USA Thema in Deutschland. Auch wenn auf der Straße kaum Proteste stattfinden, ist die Empörung doch groß. Viele fühlen sich an schmerzhafte Teile der eigenen Geschichte erinnert.

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Ein Mann hält eine Geheimdienstakte (Foto: EPA/SHAWN THEW)
Bild: picture-alliance/dpa

Die Regierung möchte an möglichst viele Daten ihrer Bürger gelangen, doch diese beharren auf ihrer Privatsphäre. Der Widerstand geht so weit, dass deutschlandweit Menschen aus allen Bevölkerungsschichten auf die Straße gehen. Es kommt zu Demonstrationen und Protestmärschen. Die Bürger weigern sich, ihre Daten herauszugeben - und das im Jahr 1983. Damals wollte die Bundesregierung Inventur machen und eine detaillierte Volkszählung durchführen. Alle volljährigen Deutschen sollten auf papiernen Fragebögen Angaben zu ihrer Wohnsituation, ihrem Familienstand und ihrer Erwerbstätigkeit machen.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Enthüllungen durch Edward Snowden erscheinen diese persönlichen Preisgaben geradezu lächerlich. Wenn es stimmt, was der ehemalige US-Geheimdienstmitarbeiter sagt, kann die amerikanische National Security Agency (NSA) durch die elektronische Überwachung von Telefonaten und E-Mail-Verkehr  weit mehr herausfinden, als es mit Fragebögen je möglich gewesen wäre. Und wie sich herausgestellt hat, spioniert die NSA offenbar nicht nur ihre eigenen Bürger aus, sondern hört auch in Deutschland und in anderen EU-Staaten ausgiebig mit.

Deutschland als "Überwachungsdiktatur"

Und wie reagieren die Deutschen? Laut einer aktuellen Umfrage verlangen vier von fünf Befragten, dass Angela Merkel sich all das nicht mehr länger von den USA gefallen lässt und ein Machtwort in Richtung Washington spricht.  Massenproteste wie damals vor der Volkszählung stehen aber nicht bevor. "Die Zeiten haben sich eben geändert", sagt Ulrich Sittermann, Lehrerausbilder an der Universität Bremen. Er engagierte sich in den 1980ern selber im Protest gegen die Volkszählung und erinnert sich noch gut an das Umfeld, in dem die Initiativen entstanden. "Die waren ein Element der neuen sozialen Bewegung", sagt Sittermann der DW. "Es gab die Anti-Atom-Bewegung, es gab die neu entstandene Frauenbewegung. Und aus diesem Aufbruchpotenzial rekrutierte sich wesentlich auch die Anti-Volkszählungsbewegung."

Demonstranten protestieren am Samstag (28.05.11) auf dem Roemer in Frankfurt am Main gegen Atomkraft. (Foto: Mario Vedder/dapd)
Die Anti-Atomkraft-Bewegung war ein Motor der Veränderung in den 1980ernBild: dapd

Heute demonstrieren laut Sittermann nur noch die Wenigsten gegen die Verletzung der Privatsphäre durch Online-Überwachung, weil sich die Deutschen zu sehr an Kommunikationswege wie E-Mail und Facebook gewöhnt haben, um die Gefahren dieser Medien klar zu sehen. Diese Situation findet der ehemalige Geschichts- und Politiklehrer gefährlich. Er fürchtet, Deutschland könnte in eine "Überwachungsdiktatur" abgleiten, wenn sich kein Widerstand regt.

Andere Form von Protest

Die Deutschen organisieren vielleicht keine Protestmärsche, aber sie haben andere Wege, um ihrer Empörung über die Abhörtaktiken der Amerikaner Gehör zu verleihen. In Internetforen, auf Facebook-Seiten und "analog" auf den Leserbriefseiten deutscher Zeitungen, kann man die Wut erkennen, die die Enthüllungen hervorgerufen haben. Und die Bewunderung, die viele Deutsche für Edward Snowden empfinden. Das bestätigt auch Anna von Münchhausen, Textchefin der Zeitung "Die Zeit", gegenüber der DW. Sie ist zuständig für die Leserbriefseite von Deutschlands größter Wochenzeitung und sagt, dass die Leser die Frage eines Leitartikels, ob sie Snowden verstecken würden, überwiegend mit "Ja" beantwortet hätten. "Einige Reaktionen lauten zum Beispiel: Edward Snowden hat für die Freiheit der Menschheit sein Leben in Gefahr gebracht. Wir alle sollten ihn verstecken", berichtet Münchhausen.

Andere Leser sehen in den heutigen Verhältnissen Ähnlichkeiten zur DDR-Vergangenheit und den damals allgegenwärtigen Spitzeln des Ministeriums für Staatssicherheit. Ein Beispiel: "Ich fühle mich an die düstere Zeit der an ihrer eigenen Unfähigkeit versunkenen DDR erinnert. (…) Auch ich wurde seinerzeit systematisch bespitzelt, und auch heute wird das wieder so sein, nur viel professioneller, viel perfekter."

Auf einem Tisch im Stasi Archiv in Dresden sind verschiedene Abhörwerkzeuge ausgestellt. (Foto: Thomas Lehmann/ dpa)
Die Abhörmethoden der Stasi, in der DDR gefürchtet, wirken heute vollkommen veraltet.Bild: picture-alliance/dpa

"Es geht um Freiheit"

Dieser Vergleich und ein noch weiter zurückliegender Teil der deutschen Geschichte scheint viele zu bewegen, glaubt Münchhausen: die Erinnerung an Nazi-Deutschland. Und vielleicht seien die Bundesbürger auch deshalb weitaus erschütterter über die Enthüllungen als die meisten Amerikaner. "Bei uns wird da eine ganz andere Ebene der Furcht und der Sorge angesteuert, weil wir eine Geschichte haben mit einem faschistischen Staat, der seine Bürger systematisch bespitzelt und überwacht hat und darunter haben Tausende gelitten."

Die Amerikaner haben dagegen ihre eigenen prägenden, kulturellen Erinnerungen: "Generell ist seit 9/11 das Thema Terrorbekämpfung so weit nach vorne geschoben worden, dass dieser Zweck alle Mittel heiligt", sagt Nico Lumma, Co-Vorsitzender des Vereins "D64- Zentrum für Digitalen Fortschritt", der DW. Die deutschen Reaktionen, die der Social-Media-Experte in den letzten Wochen im Netz beobachtet hat, fallen nicht so verständnisvoll aus. "Die Leute sind genervt von der Tragweite dieser Überwachung. Ich glaube, die meisten haben es insgeheim sowieso schon geahnt, dennoch erwarten sie von der Bundesregierung, dass den Amerikanern klar gesagt wird, dass das so nicht weitergeht", erzählt Lumma. "Generell ist der Tenor nicht nur 'Es geht hier um Datenschutz', sondern 'Es geht hier um Freiheit'."