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Soziale Gerechtigkeit

Mirjam Gehrke20. Februar 2013

Anlässlich des Welttages der sozialen Gerechtigkeit mahnt der Sozialwissenschaftler Daniel Schraad-Tischler, die Industrienationen dürften ihren Wohlstand nicht auf Kosten von Entwicklungsländern sichern.

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Demonstration in Brüssel für Arbeit und soziale Gerechtigket (Foto: AP/dapd)
Bild: AP

DW: Herr Schraad-Tischler,  einer aktuellen Umfrage zufolge sind zwei Drittel der Deutschen der Meinung, dass die soziale Gerechtigkeit in diesem Land in den letzten Jahren abgenommen hat. Wie definieren Sie soziale Gerechtigkeit?

Daniel Schraad-Tischler: Soziale Gerechtigkeit herrscht dann, wenn möglichst alle Menschen über gleiche Verwirklichungschancen in einer Gesellschaft verfügen. Das heißt, dass sie im Rahmen ihrer persönlichen Freiheit das Beste aus ihrem Leben machen können und dazu in die Lage versetzt werden müssen. Der Staat und die Gesellschaft müssen für solche gleichen Chancen sorgen.

Welche Voraussetzungen müssen erfüllt werden, damit diese Chancengleichheit gewährleistet wird?

Zunächst einmal ist wichtig, dass Menschen nicht in Armut leben. Darüber hinaus muss der Staat die Chance auf gesellschaftliche Teilhabe durch den Zugang zu Bildung ermöglichen. Ganz wichtig sind hier Investitionen in frühkindliche Bildung. Internationale Studien belegen, dass die Stärkung der frühkindlichen Bildung sich positiv auf die soziale Mobilität für einen Menschen auswirkt, also auf seine gesellschaftlichen und beruflichen Aufstiegschancen. Und das kommt der gesamten Gesellschaft zugute. Wenn der Staat für soziale Gerechtigkeit sorgt, trägt er zu einer besseren wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bei.

Wie wichtig sind Demokratie und Marktwirtschaft für soziale Gerechtigkeit?

Ein Obdachloser bittet in New York um Geld (Foto:dpa)
Armutszeugnis für die größte Volkswirtschaft der Welt - Bettler in den USABild: picture-alliance/dpa

Demokratie und Partizipationschancen gehören elementar zur sozialen Gerechtigkeit dazu. Wenn Menschen nicht in der Lage sind, über ihr Leben auch politisch selbst zu bestimmen und entsprechend politische Rechte haben, dann ist ihnen ein ganz elementarer Bereich von Teilhabe verwehrt.

Nun befindet sich aber eine ganze Reihe von demokratisch und marktwirtschaftlich verfassten Ländern zurzeit in einer tiefen sozialen Krise: Griechenland, Spanien und Portugal in Europa, aber auch die USA, die im OECD-Vergleich in Sachen soziale Gerechtigkeit schlecht abschneiden. Hat die Demokratie in diesen Ländern versagt?

Die Gründe sind von Land zu Land unterschiedlich. In den USA gibt es extrem hohe Einkommensunterschiede, die sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verschärft haben. Extrem hohen Einkommen auf der einen Seite steht eine wirklich große Armutsschicht gegenüber. Die USA haben eine extrem hohe Kinderarmutsrate – das ist, im wahrsten Sinne des Wortes, ein Armutszeugnis für die größte Volkswirtschaft der Erde. In den USA ist der soziale Hintergrund eines Kindes ausschlaggebend für den späteren Lernerfolg.

Welche Gefahren zeichnen sich für die Demokratie, für den Zusammenhalt einer Gesellschaft ab, wenn die soziale Sicherheit abnimmt?

Das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen hängt ganz entscheidend mit dem Gedanken der Legitimität eines politischen Systems zusammen. Wenn Menschen den Eindruck haben, dass die Politik und der Staat nicht mehr in der Lage sind, ein Grundmaß an sozialer Gerechtigkeit herzustellen, dann schwindet die Zustimmung zu einem politischen System. Das kann umschlagen in radikale Strömungen oder in Diskriminierung von Minderheiten. Beides kann für das gesamte demokratische System gefährlich werden.

Berufschule in Kongo (Foto: DW/S. Schlindwein)
Bildung ist der Schlüssel zum sozialen AufstiegBild: DW/ S. Schlindwein

In den OECD-Ländern haben wir noch nicht das Problem, dass die Demokratie auf Grund wachsender Armut in Frage gestellt wird. Vielmehr beobachten wir, dass die Menschen versuchen, über demokratische Partizipation am System etwas zu ändern. Aber wenn über lange Frist extreme soziale Ungleichheit herrscht, dann ist das sicher nicht förderlich für das Gesamtsystem der Demokratie.

Sie schreiben in einer Studie über die soziale Gerechtigkeit im OECD-Vergleich, Armut in reichen Ländern sei "kein Schicksal", sondern könne durchaus erfolgreich bekämpft werden. Wie steht es um die Chancen der Armutsbekämpfung in Schwellen –und Entwicklungsländern?

Die Millennium-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen haben Armutsbekämpfung als ein Hauptziel formuliert. Dabei geht es um die Halbierung der absoluten Armut. In den Staaten der OECD und der EU messen wir die relative Einkommensarmut im Verhältnis zum jeweiligen nationalen Einkommen in einem Land. 

In Bereich der Armutsbekämpfung sind in den letzten Jahren durchaus Fortschritte gemacht worden. Aber hier tragen nicht die Entwicklungsländer allein die Verantwortung. Im Rahmen der OECD, der EU und der G20 tragen die reichen Industrienationen große Mitverantwortung für die Bekämpfung von Armut im globalen Maßstab.

Die entwickelten Länder tragen eine große Verantwortung für eine globale nachhaltige Entwicklung. Der Wohlstand der Industrienationen beruht auf Massenkonsum. Und die Schwellen- und Entwicklungsländern haben den Anspruch, auch in diese "entwickelte Wohlstandwelt" vorzudringen. Das muss partnerschaftlich funktionieren. Unser Wohlstand darf nicht auf Kosten anderer Staaten gesichert werden, nicht um den Preis, dass die Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe in Entwicklungsländern beschnitten werden.

Der Wirtschafts- und Sozialwissenschafter Dr. Daniel Schraad-Tischler ist Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler und bei der Bertelsmann-Stiftung für das Projekt "Indikatoren für nachhaltige Regierungsführung" (Sustainable Governance Indicators) zuständig. Dabei werden die OECD-Länder regelmäßig im Hinblick auf die Qualität von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die konkrete Steuerungsfähigkeit von Regierungen untersucht und bewertet.