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PolitikVenezuela

Warum Venezuela Anspruch auf einen Großteil Guyanas erhebt

5. Dezember 2023

Venezuela hat per Referendum beschlossen, zwei Drittel des Nachbarlandes Guyana zu annektieren. Der Grenzstreit ist älter als beide Länder. Warum kocht er gerade jetzt hoch? Will Caracas wirklich einen Krieg riskieren?

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Ein Mann läuft an einer Mauer vorbei, auf die ein Graffiti mit dem spanischen Slogan "El Esequibo es nuestro" gesprüht ist
'Essequibo gehört uns' - Venezuela will die Region für sich beanspruchenBild: Federico Parra/AFP

Während die Sozialistische Einheitspartei Venezuelas (PSUV) für ihre Annexionspläne warb, beantragte die Regierung von Guyana beim Internationalen Gerichtshofs (IGH) der Vereinten Nationen einen Schiedsspruch zum Grenzstreit zwischen den beiden Ländern. 

Der IGH wies Venezuela am 1. Dezember 2023 an, "jede Handlung zu unterlassen, die die gegenwärtige Lage in dem umstrittenen Gebiet ändern würde". Nicolas Maduro und seine Chavisten (benannt nach dem verstorbenen Parteigründer Hugo Chavez) gewannen jedoch die Volksabstimmung in Venezuela - nach offiziellen Angaben - mit weit über 90 Prozent Zustimmung. Eine der Fragen darin: Soll sich Venezuela über das IGH-Urteil hinwegsetzen? 

Die Antwort: Ja.

Um welches Gebiet in Guyana geht es?

Venezuela will das sogenannte Essequibo-Gebiet annektieren, also den Teil Guyanas, der westlich des Flusses Essequibo liegt. Es umfasst etwa zwei Drittel der Landesfläche. Zum Vergleich: Guyana ist etwa so groß wie die Insel Großbritannien. Nach einer Annexion wäre es etwas kleiner als Schottland ohne die umliegenden Inseln.

Von den 800.000 Guyanern leben allerdings nur etwa 125.000 im Essequibo - und diese leben überwiegend an der Küste oder in küstennahen Ufersiedlungen am Fluss Essequibo. Die übrige Bevölkerung im Hinterland des Essequibo bestehe zum Großteil aus Indigenen und so genannten Pork-Knockers, die hier - ähnlich den Garimpeiros in Brasilien - illegal Gold und Diamanten schürfen, erklärt der Historiker Christian Cwik von der Universität Graz, der die Region mehrfach bereist hat.*

Das extrem unwegsame Bergland von Guayana (mit drei a), das sich von der Küste Guyanas, Surinams und Französisch-Guayanas bis weit nach Brasilien und Venezuela hinein erstreckt, gilt seit langem als rohstoffreich. Im Jahr 2015 dann entdeckte der US-Konzern Exxon Mobil auch noch große Erdölvorkommen vor der Küste Guyanas, von denen ebenfalls ein erheblicher Teil vor Essequibo liegt.

Eingangsbereich eines kleinen Gebäudes von Exxon Mobil in Georgetown, Guyana
Die Ölfunde von Exxon Mobil könnten Guyana zu einem extrem reichen Land machen Bild: Sabrina Valle/REUTERS

Worauf gründet Venezuela seine Ansprüche?

Der Territorialstreit um Essequibo ist älter als beide Staaten, die er nun betrifft. Nachdem Christoph Columbus 1498 Südamerika entdeckt hatte, beanspruchte Spanien den Norden des Subkontinents für sich. "Erschlossen wurde das Gebiet der Guyanas von den Spaniern jedoch faktisch nie", sagt Historiker Cwik.

Im Zuge der Napoleonischen Kriege in Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts zerfiel das spanische Weltreich zusehends. "Das Vereinigte Königreich hatte bereits Ende des 18. Jahrhunderts begonnen, sich Gebiete des damaligen spanischen Generalkapitanats Venezuela einzuverleiben", erklärt der emeritierte Karibik-Historiker Michael Zeuske, darunter die Insel Trinidad und Teile dessen, was heute als Essequibo bezeichnet wird. Nach dem Wiener Kongress von 1814/15 blieben dann diese besetzten Territorien im Besitz der Briten, obwohl sie eigentlich an die Spanier und Niederländer zurückgegeben werden sollten.

Ein Wasserfall stürzt von einem dicht bewaldeten Hochplateau in die Tiefe
Einige der höchsten Wasserfälle der Erde liegen im Guayana-Hochland, darunter die Kaieteur-Fälle im Essequibo-Gebiet.Bild: Pond5 Images/IMAGO

In den Wirren der Staatsgründung habe es Venezuela zunächst versäumt, die Ansprüche auf das dünnbesiedelte Territorium im äußersten Südosten des Landes zu verteidigen, die es von den Spaniern geerbt hatte, erklärt der Politologe Victor Mijares von der Universidad de los Andes in Bogotá. Der Versuch, dies nachzuholen, mündete 1899 in einem Schiedsspruch und der heute international anerkannten Grenze, aber: "Venezuela, das sich vor dem Schiedsgericht in Paris nicht ordentlich vertreten sah, hat dies nie anerkannt", sagt Mijares. "Als Guyana 1966 unabhängig wurde, ging dieser Anspruch auf den neu gegründeten Staat über." Noch im selben Jahr untermauerte die damalige Regierung diesen Anspruch mit der Errichtung eines venezolanischen Militärstützpunktes auf der guyanischen Insel Anakoko im Grenzfluss Cuyuni, den das Land bis heute verteidigt.

Warum erneuert Venezuela seine Ansprüche auf Essequibo gerade jetzt?

Angesichts der Unbeliebtheit seiner Regierung nutze der venezolanische Präsident Nicolas Maduro die Essequibo-Frage als nationalistisches Motiv, um seine Position zu stärken, meint Mijares: "In Vorbereitung auf den Wahlkampf 2024 und im Ringen um die internationale Anerkennung hat Maduro diese historischen Ansprüche reaktiviert." Die oft in diesem Zusammenhang genannten Ölfunde hält der Politologe für einen Nebenaspekt. Dafür spricht, dass Exxon Mobil die Reserven bereits 2015 entdeckt hat.

Der Historiker Cwik sieht das grundsätzlich ähnlich. Die Ölfunde würden es den Chavisten aber erlauben, das Thema ideologisch noch stärker aufzuladen: "Exxon Mobil ist Repräsentant des - in den Worten des Chavismus - 'nordamerikanischen Imperialismus' und die mittlerweile wirtschaftsliberale Regierung von Guyana ihr Erfüllungsgehilfe." Zuvor hatte die langjährige Regierungspartei in Georgetown einen linken Kurs verfolgt, der Caracas möglicherweise davon abgehalten habe, die Herrschaft über Essequibo einzufordern, so Cwik.

Guyanas Präsident Irfaan Ali
Guyanas Präsident Irfaan Ali hat die Wirtschaft Guyanas liberalisiert und will die Beziehungen zu den USA belebenBild: Lenin Nolly/NurPhoto/picture alliance

Ein weiterer möglicher Grund ist die aktuelle weltpolitische Lage: "Die Aufmerksamkeit der USA weg von den Schauplätzen in Osteuropa und dem Nahen Osten zu lenken, könnte den mit Venezuela verbündeten Großmächten Russland und China Luft verschaffen, um ihre geopolitischen Interessen leichter durchzusetzen", meint der Grazer Historiker Cwik, der Maduro ein solches strategisches Kalkül aber eher nicht zutraut.

Muss sich Guyana auf einen Krieg einstellen?

Die Kräfteverhältnisse sind den Zahlen nach eindeutig: Die Verteidigungskräfte Guyanas zählen nach eigenen Angaben rund 4150 aktive Soldaten, die venezolanischen Streitkräfte geben an, bis zu 235.000 Soldatinnen und Soldaten aktivieren zu können. Dennoch glauben weder Cwik, noch Mijares, dass Venezuela seine Ansprüche, wie durch das Referendum angedeutet, militärisch durchsetzen würde.

Mijares gibt zu bedenken, dass dies Venezuela für ausländische Investitionen noch unattraktiver machen würde, als es ohnehin schon ist. Cwik weist darauf hin, dass sich das Vereinigte Königreich nach wie vor als Schutzmacht Guyanas verstehe. Auch das US-Verteidigungsministerium kündigte Ende November an, eine Delegation in das südamerikanische Land zu entsenden. Guyanas Vize-Präsident Bharrat Jagdeo deutete gar an, es könnte dabei um einen Militärstützpunkt gehen.

Venezuelas Essequibo-Gebiet: Vogelperspektive auf einen Fluss inmitten dichten Waldes, im Hintergrund bewaldete Berge
"Tiefster Regenwald", so beschreibt Guyana-Kenner Christian Cwik das Essequibo-Gebiet.Bild: Juan Pablo Arraez/AP Photo/picture alliance

Beide Experten rechnen damit, dass es wie in der Vergangenheit zu kleineren Scharmützeln am Grenzfluss Cuyuni kommen könnte. Dass Venezuela Essequibo erobern könnte, halten beide für so gut wie ausgeschlossen - allein wegen seiner Topologie: "Das ist tiefster Regenwald, selbst in kleinen Gruppen geführt von Ortskundigen kommt man da kaum durch, geschweige denn mit einer Streitmacht", sagt Cwik. Schon die Regierung in Georgetown habe kaum Kontrolle darüber, was in den entlegenen Gebieten des Essequibo* geschieht, so der Experte weiter. Es aus Caracas zu regieren, sei nahezu undenkbar.

* Diese Passagen haben wir am 16. Dezember 2023 überarbeitet, um deutlicher zwischen dichter besiedelten Gebieten in Küstennähe und dem entlegenen Hinterland zu unterscheiden.

Jan Walter Autorenfoto
Jan D. Walter Jan ist Redakteur und Reporter der deutschen Redaktion für internationale Politik und Gesellschaft.