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Von Migrant zu Migrant

8. Mai 2010

Politiker haben erkannt: Menschen mit Migrationshintergrund sind wichtige Wähler. Um ihre Stimmen bei der Landtagswahl in NRW zu bekommen, werden Kandidaten aufgestellt, die auch zugewandert sind. Funktioniert das?

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Wahlplakat der BIG in Köln-Chorweiler (Foto: DW)
Bild: DW

Wer in Köln Menschen sucht, die eine Zuwanderungsgeschichte haben, der wird unter anderem im Stadtteil Chorweiler fündig. Es ist Markttag. Viele Besucher schütteln beim Thema "Politik und Wahlen" nur mit dem Kopf und eilen weiter, andere sind abweisend und murmeln "alles Verbrecher". Tayfun Keltek hat sich mit seinem Infostand tapfer dazu gestellt und versucht, Wähler für sich zu interessieren. Nach einer halben Stunde gibt er wegen des starken Windes auf, die Flyer fliegen alle weg. Im Eiscafé des Shoppingcenters erzählt er, dass sich viele Menschen mit Migrationshintergrund für ihn interessierten, vor allem die türkischstämmigen, "aber das ist ja völlig normal. Die sind stolz darauf, dass einer von ihnen antritt und im Parlament einmal etwas zu sagen haben soll."

Marktverkäufer mit Feldsalat in Köln-Chorweiler (Foto: DW)
Feldsalat hat er, Politik interessiert ihn nicht, sagt erBild: DW

Tayfun Keltek ist im Nordosten der Türkei aufgewachsen und kam als Student zum Promovieren nach Deutschland. Heute ist er Sportlehrer an einer Realschule, 63 Jahre alt und soll im Stadtteil Chorweiler die Wähler für die SPD bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen (NRW), Deutschlands bevölkerungsreichstem Bundesland, gewinnen. Er ist sicher, dass er das schaffen wird, er habe guten Wahlkampf gemacht, sagt er. Er sagt nicht: ich schaffe das, weil ich einer von ihnen bin. So sieht Tayfun Keltek das nämlich nicht. Er will gewählt werden, weil er sich seit dreißig Jahren ehrenamtlich engagiert und seine Erfahrungen jetzt auf Landesebene einbringen möchte. Nicht, weil er zugewandert ist. Doch die Partei setzt ihn natürlich dafür ein. Jemand, der Zuwanderung selbst erlebt hat, ist glaubwürdiger, wenn es um Integrationspolitik geht.

Werben um die Herzen – oder reines Kalkül?

Traditionell wählen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland eher SPD, Grüne und vielleicht noch links. Nur wenige entscheiden sich für CDU und FDP. Das soll sich ändern, gerade die CDU wirbt momentan besonders eifrig um zugewanderte Wähler, auch in NRW. Zülfiye Kaykin gefällt das. Sie gehört zwar zur SPD, freut sich aber, dass inzwischen alle Parteien die Wähler mit Migrationshintergrund entdeckt haben. "Besser spät als nie", sagt die Einzelhandelskauffrau aus Duisburg, die in NRW bekannt wurde als Geschäftsführerin der Begegnungsstätte der Moschee in Duisburg-Marxloh. Sie ist 41 Jahre alt, in der Türkei geboren und lebt seit ihrer Kindheit in Duisburg. Sollte die SPD in Nordrhein-Westfalen die Wahl gewinnen, könnte sie die nächste Integrationsministerin des Landes werden. Zumindest hat SPD-Spitzenkandidatin Hannelore Kraft sie dafür schon mal nominiert.

Wahlplakat des Politikers Tayfun Keltek in Köln-Chorweiler (Foto: DW)
Tayfun will in den LandtagBild: DW

Jemand, der einen Migrationshintergrund habe, könne viel besser nachempfinden, was Menschen mit einer Zuwanderergeschichte erleben und empfinden, sagt Zülfiye Kaykin. Sie wünscht sich deshalb mehr Menschen mit Migrationserfahrung in verantwortungsvollen Positionen im öffentlichen Dienst. In der Politik seien Migranten auch nach 50 Jahren Einwanderungsgeschichte in NRW längst nicht normal. Das Thema Integrationspolitik und Zuwanderung sei innerhalb ihrer Partei "mal mehr, mal weniger interessant" gewesen, sagt Zülfiye Kaykin. Sie hofft jetzt, dass die Parteien es auch ernst meinen und dass Integrationspolitik nicht nur Mittel sei um Stimmen zu bekommen. Menschen mit Migrationsgeschichte seien genauso interessiert an Politik, wie alle anderen auch, aber schwerer zu gewinnen, wenn man es nicht schaffe, "ihre Herzen zu gewinnen". Sprich: sich nicht nur für sie zu interessieren, wenn sie Probleme machen.

Nützliche Wurzeln – oder Probleme dank Akzent?

Sowohl Zülfiye Kaykin als auch Tayfun Keltek sagen, sie hätten innerhalb ihrer Partei oder mit Wählern nie Ablehnung aufgrund ihrer türkischen Wurzeln erlebt. Kaykin spricht höchstens von "Anlaufschwierigkeiten" vor 17 Jahren, als sie in die Partei eingetreten ist. Und Keltek sagt, dass man am Rande so etwas schon mal erlebe, es aber nicht ernst nehmen solle. Illya Kozyrev von der FDP in Köln hat da andere Erfahrungen gemacht. "Ich würde sagen, dass ich wegen meines Akzents in den ersten Minuten als weniger kompetent eingeschätzt werde und das finde ich eigentlich schade."

Illya Kozyrev von der FDP Köln vor einem FDP-Wahlplakat in Köln Mitte (Foto: DW)
Illya Kozyrev mag die FDPBild: DW

Dabei könnte man Illya Kozyrev als Muster für eine gelungene Zuwanderungs- und Integrationsgeschichte nehmen. Er ist 27 Jahre alt, kommt aus der Ukraine und lebt seit neun Jahren in Deutschland. Inzwischen hat er einen deutschen Pass, hat in Politikwissenschaften promoviert und arbeitet bei einer Integrationsorganisation. Innerhalb seines Ortsvereins ist er nicht der einzige mit Migrationsgeschichte, aber generell fällt er in der Politik damit noch auf, obwohl er es nicht möchte. "Ich trage vor mir kein Schild und sage: ich bin Mensch mit Migrationshintergrund und deswegen muss ich besonders behandelt werden! Nein, überhaupt nicht."

Alles normal – oder noch zu besonders?

Illya Kozyrev findet, dass es in unserer Gesellschaft, in der Menschen aus vielen Nationen leben, noch mehr Politiker mit unterschiedlichen Wurzeln geben müsse. Und dass die Politiker sich um alle Migranten kümmern sollten, nicht nur öffentlichkeitswirksam stärker um die türkeistämmigen. Unter den Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund in NRW sind nicht die türkeistämmigen Wähler die größte Gruppe, sondern Russlanddeutsche, Rumäniendeutsche und Menschen aus Polen. Sie interessieren sich für andere Dinge als es vielleicht türkischstämmige Zuwanderer tun. Sie wählen eher konservativ die CDU, "weil sie der Meinung sind, dass es in der Zeit von Helmut Kohl möglich war, aus der ehemaligen Sowjetunion wieder zurück nach Deutschland zu kehren."

Eine Aufschrift in Wien, die den Zuwanderern sagt sie seien willkommen (Foto: DW)
Bild: DW

In NRW kann man garantiert noch nicht von einer Kehrtwende im Umgang mit potenziellen Wählern aus Zuwanderungsfamilien sprechen. Auch wenn sich alle wünschen, dass sich "das alles normalisiert". Politiker mit Migrationshintergrund sind immer noch seltener und als Lockvogel im Wahlkampf funktionieren sie natürlich auch nicht für alle Menschen mit Migrationshintergrund. Untereinander sind sich auch nicht alle eins, nur weil sie aus der Türkei, Russland oder Italien zugewandert sind. Und es gibt viele Wähler, für die sie immer noch "die Ausländer" sind, obwohl sie die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Zülfiye Kaykin sagt das so: "Wir müssen einfach gucken, dass wir zusammenhalten und das Land stärken und die Migranten gehören dazu, sie sind ein Teil der Gesamtgesellschaft und so müssen wir das auf beiden Seiten begreifen." Wann es soweit sein wird, weiß sie auch nicht.

Autorin: Marlis Schaum
Redaktion: Dеnnis Stutе