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PolitikAsien

Tadschikistan: Polygamie als Überlebenschance für Frauen

Madina Shogunbekova
18. August 2023

Frauen in Tadschikistan gehen immer häufiger Vielehen ein. Womit hängt das zusammen - und was bedeuten solche Partnerschaften für Frauen, die zur Zweit- oder Drittfrau eines Mannes geworden sind?

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Hochzeit in Tadschikistan
Ist die Hochzeit wirklich immer der vielbeschworene "schönste Tag im Leben"? Bild: Boaz Rottem/IMAGO

Seit einigen Jahren werden in Tadschikistan immer mehr Vielehen geschlossen. Dies hängt mit dem wachsenden Einfluss der Religion auf die Gesellschaft, aber auch mit der massenhaften Abwanderung von jungen Männern ins Ausland zusammen. Das Land hat eine sehr hohe Armutsquote und es ist schwierig, einen gut bezahlten Job zu finden. Laut einer aktuellen Studie des nichtstaatlichen russischen Instituts für Zentralasienstudien arbeiten fast eine Million der rund neun Millionen tadschikischen Bürger im Ausland und etwa 70 Prozent der tadschikischen Familien leben von deren Überweisungen.

Dies ist auch einer der Gründe, warum viele tadschikische Frauen, die nach Scheidungen keinen Ehemann mehr haben, das Recht der einheimischen Männer auf Vielehen unterstützen. Darin sehen die Frauen die einzige Möglichkeit, sich und ihre Kinder finanziell abzusichern. Ehen mit mehreren Frauen kommen vor allem bei Männern mit hohem und mittlerem Einkommen vor, darunter unter Beamten und Geschäftsleuten. Der Staat erkennt Vielehen eigentlich nicht an, aber gemäß der Scharia dürfen Muslime mehrere Frauen haben. Ihre Ehe wird von einem Mullah geweiht, ohne dass die Ehe offiziell registriert wird.

Warum Frauen Zweit-, Dritt- oder Viertfrau werden

Die Feministin und Diplom-Psychologin Firuza Mirzoyeva von der tadschikischen Organisation "Public Health and Human Rights" nennt mehrere Gründe, warum Vielehen weit verbreitet sind. Frauen seien bereit, Zweit-, Dritt oder Viertfrau zu werden, um ihr Privatleben gesellschaftlich akzeptabel zu machen, sagt sie und fügt hinzu: "Es hat auch einen materiellen Aspekt: ​​Für viele Frauen auf dem Lande, die keine höhere Bildung erhalten haben, und einige haben noch nicht einmal einen Schulabschluss, ist es - sagen wir mal: einem Mann zu gehören - die einzige Möglichkeit, finanziell zu überleben."

Mirzoyeva führt als Beispiel die Regionen Chatlon und Sughd an, wo Mädchen von Kindesbeinen an auf die Ehe vorbereitet werden. Eine Ausbildung werde hingegen als "etwas Überflüssiges" betrachtet. Vielehen würden Frauen "Sicherheit" geben und ihnen einen bestimmten Status in der Gesellschaft verschaffen. "Die Gesellschaft hat eine negative Haltung gegenüber unverheirateten und geschiedenen Frauen und betrachtet sie als 'alte Jungfern'. Selbst wenn eine Frau erfolgreich und unabhängig ist, wird dies von der Gesellschaft nicht gutgeheißen", betont die Aktivistin.

Von einer unglücklichen Ehe zu einem erfolgreichen Unternehmen

Amina kommt aus Isfara, ist aber vor langer Zeit mit ihren Eltern in die Hauptstadt Duschanbe gezogen. Nach dem Abschluss der neunten Klasse, erzählt die junge Frau, hätten ihre Eltern sie verheiratet. "Sie haben einen Mann für mich ausgesucht. Ich wusste nicht einmal, wie er aussah, aber ich wusste, dass er zwei Jahre älter ist als ich", erzählt Amina. Sie lebte mit ihm im Haus seiner Eltern. Doch schon nach zwei Monaten ging er nach Russland um zu arbeiten.

"Anfangs kam er einmal im Jahr und blieb einen Monat lang. Dann kam er überhaupt nicht mehr. Schließlich erfuhr ich, dass er ein zweites Mal geheiratet hatte und bereits bei seiner neuen Familie lebte. Dann beschloss ich, ihn zu verlassen, weil er mich und unsere Kinder nicht mehr wollte", so Amina. Die Eltern des Mannes lehnten es aber ab, ihr ihre drei Kinder zu überlassen, da Amina zu diesem Zeitpunkt nicht über die nötigen finanziellen Mittel verfügte. Doch sie besucht ihre Kinder bis heute oft.

Da Amina nicht in Armut und Einsamkeit leben wollte, stimmte sie zu, die dritte Frau eines 46-jährigen Mannes zu werden, der "sich liebevoll um sie kümmert und ihr hilft, wieder auf die Beine zu kommen". Er kaufte ihr eine Wohnung und ein Auto, und nach einer Weile half er ihr auch dabei, ein eigenes Unternehmen zu gründen. Jetzt besitzt Amina einen eigenen Schönheitssalon sowie ein Bekleidungsgeschäft. Die junge Frau sagt, dass die Fürsorge ihres zweiten Mannes sie sehr glücklich mache.

"Geschieden, daher nur als Zweitfrau geeignet"

Manizha stammt aus der Region Hissor. Sie heiratete im Alter von 19 Jahren und ließ sich wegen häufiger Konflikte mit ihrer Schwiegermutter nach vier Monaten scheiden. "So sind die Traditionen: Wenn man geschieden ist, dann ist man nur als Zweitfrau geeignet, das Schicksal lässt einem keine andere Wahl. Die Familie und die Gesellschaft akzeptieren mich leider nicht mehr", sagt Manizha.

Ein Brautpaar in Tadschikistan bei der Hochzeit
Ein Brautpaar in Tadschikistan bei der HochzeitBild: Yegor Aleyev/ITAR-TASS/IMAGO

Unmittelbar nach der Scheidung hätten ihr, so Manizha, viele angeboten, durch die Nikah, eine traditionelle islamische Trauungszeremonie, Zweit- oder Drittfrau zu werden, mit dem Versprechen, sie finanziell zu versorgen. "Zuerst habe ich abgelehnt, da ich die traumatische Trennung von meinem ersten Mann noch nicht verarbeitet hatte. Aber wegen meiner finanziellen Lage, und weil ich keine Wohnung hatte, musste ich über die Angebote nachdenken", sagt Manizha.

Schon bald wurde sie die zweite Frau eines örtlichen Beamten. "Zum Glück ist er sehr jung, erst 27 Jahre alt", betont sie. Der neue Ehemann verbringt drei Tage in der Woche mit Manizha, die restlichen Tage ist er in seinem eigenen Haus mit seiner ersten Frau und zwei Kindern. Laut Manizha weiß die erste Frau von der zweiten Ehe und hat nichts dagegen.

"Zweitfrau zu sein ist meine eigene Entscheidung, ich wurde nicht dazu gezwungen. Im Moment bin ich sehr froh, dass es jemanden in meinem Leben gibt, der sich um mich kümmert. Gegen Traditionen und Kultur darf man nicht verstoßen, man muss das Leben so nehmen wie es ist und Allah für alles danken, was er mir gegeben hat", sagt sie.

"Eine 'alte Jungfer' ist für eine Erstehe ungeeignet"

Sitora, ursprünglich aus der Region Chatlon, arbeitet in Duschanbe und mietet seit langem ein Zimmer in der Hauptstadt. Die 29-Jährige war in einer Beziehung, die jedoch nicht funktioniert hat - und nun glaubt sie, dass ihr Alter es ihr nicht mehr erlaubt, die erste Ehefrau eines Mannes zu werden. Deshalb erwägt Sitora, Zweitfrau zu werden: "Meine Eltern werden mich nicht mehr akzeptieren, da sie schon lange auf meine Heirat warten. Ich kann nirgendwo hingehen, mein kleines Gehalt erlaubt es mir nicht, langfristig dieses Zimmer zu mieten, insbesondere wenn man bedenkt, dass die Preise in die Höhe schnellen und die Löhne weiterhin dürftig sind."

Hochzeit im tadschikischen Hissor
Hochzeit im tadschikischen HissorBild: Yegor Aleyev/ITAR-TASS/IMAGO

Die Frau träumt schon lange von guten Lebensverhältnissen, davon, eigene Kinder zu haben und eine Familie zu gründen. "Ich bin bereit, Zweit-, Dritt- oder Viertfrau zu werden. Wenn es mir hilft, Einsamkeit zu vermeiden und zukünftigen Kindern finanzielle Stabilität zu bieten, warum dann nicht?", fragt sie.

Eingeschränkte Rechte und soziale Unsicherheit

Zweit- oder Drittfrau zu sein, geht allerdings für die Frauen mit eingeschränkten Rechten und sozialer Unsicherheit einher. Denn ohne offizielle Registrierung einer Ehe "haben Frauen in solchen Beziehungen keinen rechtlichen Schutz und auch keine Eigentumsansprüche", stellt Menschenrechtlerin Firuza Mirzoyeva fest und betont: "Wenn in einer solchen Ehe Kinder geboren werden und diese auf den Namen des Vaters eingetragen sind, können nur die Kinder mit irgendeiner finanziellen und vermögensrechtlichen Unterstützung rechnen."

Laut der Feministin stellen Vielehen erhebliche Risiken für Frauen dar, insbesondere wenn der Ehemann die Frau verlässt oder stirbt, da dann niemand mehr da ist, der für die Frau oder ihre Kinder sorgt. "Eine ganze Generation von Kindern, die in solchen Ehen geboren werden, ist mit Vorurteilen der Gesellschaft behaftet", fügt sie hinzu.

Mirzoyeva weist auch auf die schwierigen sozialen Beziehungen hin, insbesondere zwischen den Frauen, die in ungleichen Positionen stehen. Erstfrauen sähen eine Zweitheirat oft negativ, aber wegen ihrer finanziellen Abhängigkeit vom Ehemann müssten sie dies oft hinnehmen, so die Aktivistin.

Laut Mirzoyeva sind die tadschikischen Behörden gezwungen, die Augen vor Vielehen zu verschließen. Denn sie befürchten, dass Gegenmaßnahmen für viele Frauen den Weg in den wirtschaftlichen Abgrund bedeuten könnten. "Wenn man ernsthaft versuchen würde, die Situation zu ändern, würden viele Frauen unter die Armutsgrenze rutschen, was dazu führen würde, dass sich einige zur Prostitution gezwungen sehen würden. Selbst wenn einige von ihnen so genug Geld für eine unabhängige Existenz verdienen könnten, würde man sie in der Gesellschaft nicht akzeptieren", glaubt die Feministin.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk