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Massaker in Nigeria

Thomas Mösch18. Februar 2014

Seit Wochen überfallen mutmaßliche Boko-Haram-Terroristen vermehrt abgelegene Dörfer im Nordosten Nigerias. Das Militär scheint machtlos. Der Strategiewechsel der Islamisten deutet aber auf Erfolge der Sicherheitskräfte.

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Nigeria Boko Harem Angriff in Damaturu
Bild: picture-alliance/AP

Es war früh am Sonntagmorgen (16.2.2014), als die Mörder in mehrere kleine Orte kamen im dünnbesiedelten Süden des nigerianischen Bundesstaates Borno. "Wir hörten Schüsse, haben uns sofort in unsere Autos gesetzt und sind geflohen", berichtet ein Überlebender aus dem Städtchen Izge der DW am Telefon. "Später haben wir gehört, dass viele Häuser zerstört wurden und mehr als 100 Menschen starben. Eine Verwandte von mir hat sieben Kinder verloren."

Es seien rund 200 Angreifer gewesen, die den Ort nahe den Bergen an der Grenze zu Kamerun überfielen, berichten Augenzeugen. Bornos Gouverneur Kashim Shettima bestätigte am Montag in Nigerias Hauptstadt Abuja, dass allein in Izge 106 Tote zu beklagen seien. Die Terroristen - mutmaßlich Mitglieder der Terrororganisation Boko Haram - hätten noch acht weitere Dörfer überfallen, so Shettima. Eine Gesamtzahl der Opfer konnte der Gouverneur deshalb noch nicht nennen.

Shettima informierte in Abuja Nigerias Präsidenten Goodluck Jonathan über die Lage in seinem Bundesstaat, der seit Monaten das Zentrum der Aktivitäten der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram ist. "Ich habe dem Präsidenten klar gemacht, dass Boko Haram viel besser motiviert und ausgerüstet ist als unsere Truppen vor Ort", erklärte Shettima nach dem Gespräch. "Wir haben da eine sehr kleine Terrorzelle, die durch die Gegend zieht und Dörfer überfällt. Haben wir es jemals geschafft, einen ihrer Pläne zu durchkreuzen?", fragte Shettima ratlos die versammelten Journalisten.

Alhaji Kashim Shettima. (Foto: Ubale Musa; DW-Korrespondent in Abuja, Nigeria)
Kashim Shettima, Gouverneur des Bundesstaats BornoBild: DW/U. Musa

Ausnahmezustand teilweise erfolgreich

Terrorangriffe auf kleine Orte wie Izge in den Grenzregionen zu Kamerun, Tschad und Niger haben sich in den vergangenen Wochen auffällig gehäuft. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat seit Jahresbeginn 40 ähnliche Überfälle gezählt. Es sind diese schwer zugänglichen Regionen, in die sich die Terroristen zurückgezogen haben, seit Nigerias Regierung im Mai 2013 in Borno und zwei benachbarten Bundesstaaten den Ausnahmezustand ausrief. Den Sicherheitskräften ist es zwar gelungen, Boko Haram aus dem Rest Nordnigerias zu drängen und auch weitgehend aus den großen Städten Bornos. Nun aber versuchen die Terroristen, ihre verbliebenen Rückzugsgebiete mit umso größerer Härte zu verteidigen.

Die Überfälle der letzten Wochen seien immer nach einem ähnlichen Muster abgelaufen, berichtet Mausi Segun, die die Lage in Nigeria für Human Rights Watch beobachtet, im Interview mit der DW. "Es sieht so aus, als ob Boko Haram die Bewohner dieser Dörfer vertreiben will." Augenzeugen berichteten, dass die Menschen aufgefordert würden, diese Dörfer zu verlassen.

Viele Christen, aber auch Muslime unter den Opfern

Manchmal schickten die Terroristen sogar vorab Warnungen an den Imam der Dorfmoschee und forderten den Abzug der Bevölkerung, so Segun. Gründe für dieses Vorgehen hätten sie jedoch nicht genannt.

Karte Nigeria mit Regionen Yobe Borno Adamawa
Die drei Bundesstaaten unter Ausnahmezustand: Yobe, Borno, Adamawa

Im Süden Bornos wohnen mehrheitlich Christen. Das Vorgehen der Terroristen könnte also dem von ihnen mehrfach selbst genannten Ziel dienen, alle Christen aus Nordnigeria zu vertreiben. Doch erst wenige Tage vor der jüngsten Angriffswelle hatten mutmaßliche Boko-Haram-Kämpfer auch den von Muslimen bewohnten Ort Konduga überfallen, unter anderem die Moschee zerstört und mindestens 50 Menschen massakriert. Mausi Segun von Human Rights Watch kann deshalb in den Überfällen keine eindeutig anti-christliche Strategie erkennen. Offenbar gehe es eher darum, die Menschen zu vertreiben, um eine sichere Rückzugszone zu schaffen.

Militär achtet mehr auf Menschenrechte

Die Bevölkerung mache die Sicherheitskräfte immer wieder auf Bewegungen und Warnungen der Terroristen aufmerksam, berichten Beobachter übereinstimmend. Zwar herrscht in der Region ein tiefes Misstrauen gegen die Regierung und ihre Sicherheitskräfte, die die Menschen nicht vor den Terroristen schützen können oder wollen. "Wir müssen davon ausgehen, dass die Regierung möglicherweise mit der Situation zufrieden ist oder die Terroristen gar unterstützt", formuliert der einheimische Sicherheitsexperte Hussaini Monguno einen im Norden Nigerias weit verbreiteten Unmut.

Andererseits versuchen die Bundesregierung und Präsident Goodluck Jonathan seit einigen Monaten, den Kampf gegen den Terror von Boko Haram effektiver zu machen. So wechselte Jonathan erst im Januar die gesamte Führungsspitze des Militärs aus. Mausi Segun von Human Rights Watch lobt, dass die Sicherheitskräfte inzwischen deutlich weniger Menschenrechtsverletzungen begingen als noch vor wenigen Monaten. Im November 2013 hatte die Menschenrechtsorganisation kritisiert, dass Polizei und Militär immer wieder junge Männer willkürlich verhafteten und dann verschwinden ließen. "Da müssen wir die Regierung wirklich loben, denn es gibt nur noch sehr wenige Berichte über Übergriffe", betont Segun. In den Übergriffen von Militär und Polizei sahen Beobachter einen der Hauptgründe dafür, dass die Bevölkerung anfangs nur selten mit dem Staat zusammenarbeiten wollte.

Nigeria Kampf gegen Boko Haram Islamisten. (AP Photo/Jon Gambrell)
Seit Jahren kämpft das Militär gegen Boko HaramBild: picture-alliance/AP

Menschenrechtler wie Segun fordern nun, dass die Regierung umgehend die Sicherheit auch in den ländlichen Regionen herstellen müsse. Darüberhinaus führe kein Weg an einem wie auch immer gearteten Dialog mit der Terrorgruppe vorbei. "Ich spreche aber ausdrücklich nicht von Amnestie", so Segun.

Bornos Gouverneur Shettima fordert mehr Entschlossenheit von der Bundesregierung in Abuja. Doch nur zwölf Monate vor der nächsten Wahl fürchtet er, dass der Kampf gegen den Terror in seinem Bundesstaat den politischen Ränkespielen zum Opfer fallen könnte: "Ich bin eigentlich ein unverbesserlicher Optimist, aber angesichts der aktuellen Lage glaube ich, dass es unmöglich ist, Boko Haram zu besiegen."