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Weltklasserodlerin - und Mutter

Jonathan Crane aus Peking
5. Februar 2022

Bei Olympia in Peking zählt Natalie Geisenberger wieder zu den Gold-Favoritinnen. Die 34-Jährige findet, dass mehr für Mütter im Leistungssport getan werden könnte.

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Rodlerin Natalie Geisenberger
Natalie Geisenberger präsentierte sich bei den ersten Trainingsläufen in Peking in TopformBild: Eibner/Memmler/picture alliance

Für Natalie Geisenberger war das erste Rennen nach ihrer Babypause im November 2020 die Nagelprobe. Sechs Monate zuvor hatte sie Leo zur Welt gebracht, ihr erstes Kind. Die 34-Jährige saß auf ihrem Schlitten, mit dem sie sich mit bis zu 140 Stundenkilometern die Rodelbahn hinunterstürzen sollte, und fragte sich, ob sie noch in der Lage sein würde, die Risiken einzugehen, die sie an die Spitze ihres Sports gebracht hatten. "Ich hatte den ersten Lauf und dachte: Okay, mal sehen, was passiert", erinnert sich Geisenberger im DW-Interview. Nach diesem Lauf habe sie "ein gutes Gefühl" gehabt. Die Tatsache, dass sie nun Mutter sei, habe zwar "etwas in meinem Kopf verändert", so Geisenberger, mehr Angst habe sie aber aber nicht. "Denn dann wäre es auf diesem Niveau nicht möglich."

Nach ihrem Comeback gewann Geisenberger 2021 zum achten Mal den Gesamtweltcup, bei der Weltmeisterschaft am Königssee holte sie Silber. In Peking sieht sich Geisenberger selbst nicht in der Favoritenrolle. Ihre deutsche Konkurrentin Julia Taubitz, Gesamtweltcupsiegerin der gerade abgelaufenen Saison, und die Österreicherin Madeleine Egle seien etwas besser, meint Geisenberger, die 2014 in Sotschi und 2018 in Pyeongchang jeweils sowohl Gold im Einzel- als auch im Teamwettbewerb gewann: "Vielleicht bin ich nicht in der besten Form meines Lebens, weil es mit einem Kind eine andere Situation ist. Mein kleiner Sohn ist jetzt einfach meine Nummer eins. Es geht nicht um den Sport, es geht nur um meinen Sohn und meine Familie."

Unterstützung für Mütter

Geisenberger ist mit viermal Gold bereits die höchstdekorierte Olympionikin im Rodeln der Frauen. Sollte sie in Peking erneut erfolgreich sein, würde sie einem noch ziemlich exklusiven Klub beitreten: dem der Olympia-Medaillengewinnerinnen mit Kindern. Bei den Sommerspielen in Tokio im vergangenen Jahr forderten mehrere Sportlerinnen, darunter US-Sprinterin Allyson Felix, dass mehr getan werden müsse, um Müttern die Rückkehr in den Leistungssport zu erleichtern. Felix hat eine Stiftung für Spitzensportlerinnen initiiert, die auch Mütter sind. Mit Zuschüssen aus einem Fonds von 200.000 US-Dollar (rund 175.000 Euro) sollen zehn Mütter in die Lage versetzt werden, die Kinderbetreuung zu bezahlen, während sie trainieren und Wettkämpfe bestreiten.

Oregon | Läuferin | Allyson Felix mit ihrer Tochter
US-Sprintstar Allyson Felix mit ihrer TochterBild: Getty Images

"Da ist noch viel Luft nach oben", antwortet Geisenberger auf die Frage, ob es ausreichend Unterstützung für Mütter gebe. "Man muss viel darüber reden, dann ändert sich vielleicht auch etwas." Es gebe im Leistungssport ja kaum Mütter, dafür aber viele Väter. Die Weltklasse-Rodlerin beklagt in diesem Zusammenhang eine gewisse Doppelmoral. "Über Männer würde man so eine Geschichte nicht schreiben", sagte Geisenberger im vergangenen Jahr in einem Interview der "Süddeutschen Zeitung".

Ihr guter Freund und Olympia-Kollege Felix Loch ist Vater von zwei Kindern. Geisenberger und Loch kennen sich seit ihrer Kindheit, als sie beide mit ihren Schlitten die bayerischen Hänge hinunterrasten. "Natalie ist mental wirklich stark", sagte Loch der DW. "Sie kann sich auf das konzentrieren, was wichtig ist. Ich hoffe, sie wird in Peking gewinnen."

Bedenken wegen Peking

Beim Weltcup im November in Peking, einer Testveranstaltung für die Olympischen Spiele, musste Geisenberger mehrere Tage in Quarantäne verbringen. Sie war als enger Kontakt einer positiv auf COVID-19 getesteten Person eingestuft worden. "Ich habe wirklich lange erwogen, nicht mehr nach Peking zu fahren, weil die Erfahrungen so schlimm waren", sagt Geisenberger über die Quarantäne. Trotz mehrerer negativer Corona-Tests durfte die Rodlerin ihr Zimmer nur zum Training verlassen. Sie haderte zudem mit der Qualität der Lebensmittel. Geisenberger telefonierte deswegen auch mit dem Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), Thomas Bach, und anderen Offiziellen.

Auch die Menschenrechtslage in China habe ihr zu denken gegeben, sagt Geisenberger. Die Diskussion darüber sei "richtig, aber sie kommt zehn Jahre zu spät". Die Rodlerin weist darauf hin, dass die Athletinnen und Athleten bei der Vergabe des Olympischen Spiele kein Mitspracherecht gehabt hätten. Ein Boykott sei für sie nicht in Frage gekommen. "Wenn ich sage, ich boykottiere die Spiele und fliege nie wieder dahin, steht halt ein anderer Name auf der Ergebnisliste. Und nichts wird sich ändern", sagt Geisenberger. "Ich habe mich relativ schnell nach der Geburt meines Sohnes entschieden, dass ich das Projekt Peking zusammen mit meiner Familie angehen will. So kurz vor dem Ziel aufzugeben, war keine Option."

Zu den meisten Rennen reist Geisenberger mit ihrer gesamten Familie an: mit dem kleinen Sohn, dem Ehemann, dem Vater und sogar dem Hund. In Peking ist dies natürlich nicht möglich. Die Rodlerin zählt die Tage, bis sie ihre Lieben wiedersieht. "Ich war ja schon so erfolgreich bei Olympischen Spielen, niemand kann mir meine Medaillen mehr wegnehmen", sagt Geisenberger. "Ich bin ganz entspannt, weil ich im Rennrodeln alles erreicht habe und alle meine Träume wahr geworden sind."

Dieser Text wurde aus dem Englischen adaptiert.