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Mitfiebern auf der Reeperbahn

Alexander Drechsel14. Juli 2014

Schreien, Leiden, Johlen beim Public Viewing im Hamburger Vergnügungsviertel St. Pauli. Für die Fußballfans auf der Reeperbahn sorgte das WM-Finale für eine nervenaufreibende Nacht. Alle haben für den Titel mitgezittert.

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Public Viewing auf der Reeperbahn in Hamburg - Foto: Alexander Drechsel (DW)
Bild: DW/A. Drechsel

WM-Finale - Deutschland gegen Argentinien, am Austragungsort in Rio de Janeiro scheint die Sonne bei 24 Grad - in Hamburg nicht! Die norddeutsche Millionenmetropole wird ihrem Ruf gerecht: graue Wolken und leichter Regen bei 17 Grad - doch in den meisten anderen Teilen Deutschlands ist das Wetter ebenfalls alles andere als weltmeisterlich. Das hält die Fußball-Fans jedoch nicht vom gemeinschaftlichen Finale-Gucken ab. Immerhin liegt es 24 Jahre zurück, dass die deutsche Nationalmannschaft zuletzt Weltmeister wurde.

In Hamburg sind Busse und Bahnen voller Menschen, die in Deutschlandflaggen gehüllt sind, die Hüte in Schwarz-Rot-Gold tragen oder das Trikot der Fußball-Nationalmannschaft. Einige haben sich auch nur dezent die Deutschlandfarben auf die Wange gemalt. Aber alle wollen das große Finale sehen, kollektiv der Mannschaft die Daumen drücken und beim Spiel mitfiebern. Aus allen Himmelsrichtungen strömen die Menschen in die Stadt, um unter freiem Himmel das Spiel des Jahres zu verfolgen. An vielen Ort gibt es sogenanntes Public Viewing - ein besonders beliebter und berühmter Ort dafür ist Hamburgs Partymeile unweit des Hafens: die weltbekannte Reeperbahn.

Deutschlandflagge zum Schnäppchenpreis

Schon Stunden vor dem Anpfiff um 21 Uhr Ortszeit drängen Menschenmassen an Bars, Restaurants, Theatern, Sexshops und anderen Läden vorbei. Wer erst jetzt vom WM-Virus befallen wird, hat hier Gelegenheit auch jetzt noch Fan-Utensilen zu kaufen. 2,95 Euro kostet beispielsweise eine Deutschlandflagge.

Ein türkischer Souvinirverkäufer auf der Reeperbahn - Foto: Alexander Drechsel (DW)
Ali aus der Türkei verkauft auf der Reeperbahn FanartikelBild: DW/A. Drechsel

Die Reeperbahn ist in ein Meer aus Schwarz-Rot-Gold getaucht - nirgendwo ist auch nur ein Trikot oder eine Flagge mit den Farben Argentiniens zu sehen. Fremde Sprachen sind aber an jeder Ecke zu hören: Türken, Afghanen, Spanier, Russen, Holländer, Engländer fiebern mit - auch sie tragen irgendwo ein Kleidungsstück mit den Deutschlandfarben. Und sie sind ebenfalls Teil der kollektiven Sportbegeisterung.

Vor den Lokalen stehen Bierbänke und an jeder Ecke Flachbildschirme - wo schon am frühen Abend Vorberichte zum wichtigsten Fußballspiel des Jahres zu sehen sind. Bei schönem Wetter hätten sicherlich noch mehr Menschen das Spiel beim Public Viewing verfolgt. Aber diejenigen, die das Wetter nicht abgeschreckt hat, haben gute Laue. Immer wieder ist der Ruf zu hören: "Wir werden Weltmeister!" Fußballlieder und laute Musik aus den Boxen der Bars heizen die Vorfreude weiter an.

Niemand ist allein

Kurz vor Anpfiff verstummt die Musik und die Stimme des Fernsehkommentators schallt aus Hunderten Lautsprechern über die Reeperbahn. Dann endlich: In Hamburg ist es 21 Uhr, in Rio de Janeiro 16 Uhr, kommt der ersehnte Anpfiff. Das Publikum vor den Flachbildschirmen dankt es mit Applaus, Hurra und La Olas. Niemand bewegt sich mehr von seinem Platz, der Straßenverkehr ist fast erlahmt. Jeder will dabei sein, gemeinsam mit anderen leiden, johlen, buhen oder sonst wie den Spielverlauf kommentieren - ab jetzt ist niemand allein.

Fans vor Flatscreens - Foto: Alexander Drechsel (DW)
An vielen Fernsehern verfolgen die Fans das FinaleBild: DW/A. Drechsel

Bei argentinischen Torschüssen zuckt die Menge zusammen, Fouls werden mit Pfiffen quittiert. Bei deutschen Torchancen geht ein Raunen durch die Reihen, weil die Chancen eben nur Chancen bleiben. Ein Schockwelle breitet sich dagegen aus, als der Ball im deutschen Tor landet - umso größer ist der Jubel, als klar wird, dass das Tor nicht gilt, weil Abseits angezeigt war. Einige Zeit später eine spektakuläre Szene - jedoch diesmal vor dem argentinischen Tor. Der aufbrausende Jubel über den vermeintlichen deutschen Treffer verstummt abrupt und wandelt sich in laute Enttäuschung - es war nur der Pfosten. Torlos geht die erste Halbzeit in Rio zu Ende - in Hamburg hat immerhin der Regen nachgelassen.

In der Pause dreht jede Kneipe wieder ihre Partymusik laut - nur aus der Sankt-Pauli-Bar dringen melancholische Töne: "Don't cry for me, Argentina" - die doppeldeutige Botschaft kommt an und anwesende Gäste grölen den Refrain bierselig mit.

Nervenkrieg statt Spaziergang

Nach Anpfiff der zweiten Halbzeit bricht auf der Reeperbahn die Nacht herein, doch dunkel ist es nicht. Die Leuchtreklamen machen das die Nacht bunt und spiegeln sich farbenfroh auf dem nassen Straßenpflaster. Es achtet aber niemand darauf. Gebannt blicken die Menschen auf die Bildschirme. Sie wissen längst, dass dieses Finale nicht der erhoffte Spaziergang für die deutsche Elf ist. Verletzungen, Gelbe Karten und unangenehm viele Torchancen für die gegnerische Mannschaft lassen das WM-Finale 2014 zum Nervenkrieg werden. Argentinien kämpft!

Die Atmosphäre ist zum Zerreißen gespannt, als zum Ende der regulären Spielzeit immer noch kein Tor gefallen ist und es in die Verlängerung geht. Als ob die deutschen Spieler es in Rio hören sollten, feuern die Fans auf der Reeperbahn mit jeder neuen Spielminute ihre Mannschaft zusätzlich an. Wenn im Stadion in Brasilien deutsche Sprechchöre angestimmt werden, nimmt die Menge sie in Hamburg auf und grölt mit. Gute Leistungen der eigenen Spieler werden mit reichlich Applaus und Anerkennung bedacht. Jeder hier klopft gedanklich dem deutschen Team auf die Schultern, um die Spieler in Rio zu ermutigen. Es scheint, als wüchsen Fans und Mannschaft mit jeder Aktion imaginär weiter zusammen.

Eine Nacht anders als andere

Die Solidarität aus der Ferne wird belohnt: In der 113. Minute fällt endlich das erlösende Tor - Deutschland ist dem Titel so nah, wie seit 24 Jahren nicht mehr. Die letzten Minuten des Spiels stehen Männer und Frauen auf den Tischen, zittern, dass es in letzter Sekunde keinen Gegentreffer gibt und es nicht zu einem Elfmeterschießen kommt. Die Sekunden der Nachspielzeit ziehen sich quälend lang hin.

Jubel nach dem Schlusspfiff - Foto: Alexander Drechsel (DW)
Beim Schlusspfiff bricht sich die Spannung ihre BahnBild: DW/A. Drechsel

Etwas weiter entfernt werden schon Feuerwerkskörper gezündet - doch darauf reagiert niemand. Alle starren auf die Bildschirme und die eingeblendete Uhr. Einige Zuschauer bewegen sich gar nicht mehr, andere tänzeln nervös hin und her - jeder wartet auf den Pfiff, der Deutschland zum Weltmeister macht. Und er kommt! Schon bevor der Abpfiff verhallt ist, entlädt sich die Spannung auf der Reeperbahn in einem Schrei aus tausenden Kehlen. Wildfremde Menschen liegen sich in den Armen, Flaggen werden geschwungen, es wird gesungen, gejohlt, gelacht und getanzt - der erneut einsetzende Regen spielt angesichts der Freude keine Rolle. Es wird mal wieder eine lange Nacht werden auf der Reeperbahn. Doch diese Nacht ist anders: Die Nationalmannschaft ist Fußball-Weltmeister geworden und mit ihr Millionen Fans in Deutschland.