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Berliner U-Bahn-Geschichten

Stuart Braun21. Juli 2013

Wer die historischen Drehungen und Wendungen Berlins kennen lernen will, muss in eine der U-Bahnen steigen. DW-Reporter Stuart Braun und die australische Fotografin Kate Seabrook sind für uns abgetaucht.

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Bildergalerie zum Projekt "Endbahnhof" von der Berliner Fotografin Kate Seabrook
Bildergalerie Endbahnhof Kate Seabrook Berlin FotografinBild: Kate Seabrook

2012 fuhr Kate Seabrook, den Fotoapparat griffbereit, mit Berlins längster U-Bahnlinie U7. Sie wollte einen bestimmten Ort in der Stadt fotografieren, doch unterwegs änderte sie ihre Meinung. "Warum dokumentiere ich nicht lieber den Weg anstatt das Ziel?", fragte sie sich. Seabrook hatte schon früher, als sie in den verschiedenen U-Bahn-Stationen der Stadt gewartet hatte, deren Architektur betrachtet. Es erschien ihr nun, als öffneten sie ihr ein verborgenes Fenster auf Berlin.

Die Australierin war so begeistert, dass sie schon bald dabei war, alle 173 U-Bahn-Stationen Berlins abzulichten. An jeder einzelnen Haltestelle stieg sie aus, machte ein Foto und fuhr fünf Minuten später mit der nächsten Bahn weiter. Das Ergebnis war eine Fotopuzzle, das ein überraschend genaues Bild der Stadtgeschichte enthüllt.

Eine wundervolle Zeitmaschine

Jetzt stehen Seabrook und ich am Fehrbelliner Platz im Westen Berlins. Genauer am U-Bahnsteig, an dem die U3 hält. Wir begutachten die klassischen Verzierungen der Haltestelle, die 1913 eröffnet wurde: kunstvolle Keramik-Fliesen, die damals aus den Steuergeldern der hier aufstrebenden Bourgeoisie finanziert wurden.

Der Stationseingang oben wurde 1971 in bizarrer rot-grüner Legostein-Optik gestaltet. Dahinter: große, graue Gebäude aus der Zeit des Nationalsozialismus. "Genau das finde ich so interessant. Es ist wie in einer Zeitmaschine", sagt Seabrook. "Hier das frühe 20. Jahrhundert und dann geht man nach oben und ist in den 70ern. Das findet man doch an keinem anderen U-Bahnhof in Berlin."

Es gibt noch einen weiteren, tieferen Bahnsteig am U-Bahnhof Fehrbelliner Platz, den der U7. Er ist in grelles Gelb und Orange getaucht - futuristisch-kitschiges Design inklusive riesiger Pfeile, die die Fahrtrichtung anzeigen. Die U7 wurde zur Zeit des Kalten Krieges in West-Berlin gebaut. Sie sollte der "freien Welt" eine Alternative zur parallel verlaufenden Ring-S-Bahn bieten, die von Ost-Berlin kontrolliert wurde. Heute spiegelt sie Berlins historische Verwerfungen wider. Und die architektonischen - von der Pop-Art der 70er Jahre bis hin zur Postmoderne der 80er. "Auf gewisse Art und Weise ist es wie ein Design-Zeitstrahl", erklärt Seabrook.

Eine von Kate Seabrooks Lieblingshaltestellen liegt auf der Linie U8: die Pankstraße im Arbeiterbezirk Wedding. 1977 auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges eröffnet, war sie gleichzeitig als Haltestelle und Atomschutzbunker konzipiert. Mehrere tausend Menschen könnten hier im Falle eines atomaren Angriffs einige Wochen überleben. Seabrook und ihr Freund scherzen gern darüber, dass sie jederzeit herziehen könnten, falls sich die Lage in Berlin einmal zuspitzen sollte.

Das U als Wegweiser

Ich erinnere mich noch daran, wie ich am Flughafen ankam und das erste Mal mit der U8 nach Berlin hineinfuhr. Neugierig betrachtete ich die entspannte Mischung der Leute: Einige tranken Bier, keiner trug einen Anzug. In dem Moment fühlte ich, dass ich angekommen war. Und es war, als würde Berlin deutlich sichtbar.
Nun hat U-Bahn-fahren in einer Großstadt immer etwas Ehrliches und Offenbarendes. Fragt man die Berliner nach Tipps für Restaurants, Bars, Einkaufs- und Ausgehmeilen, wird einem oft eine U-Bahnstation als Wegweiser genannt. Ein Grund dafür ist, dass sich in Berlin, einer relativ jungen Metropole, Wohnungsbau und U-Bahn-Netz gemeinsam entwickeln konnten. Genauer gesagt, wuchs die Stadt um das sternförmige U-Bahn-Labyrinth drumrum - in einer rasanten Geschwindigkeit. Zwar mögen die Londoner Tube und die Pariser Metro insgesamt über mehr Haltestellen verfügen. Doch im Verhältnis zu seinen Einwohnern wurde Berlins Nahverkehrsnetz damals deutlich dichter ausgebaut. Es ist das einzige in Europa, das geplant war, mehr Menschen als die eigenen Einwohner zu transportieren: Berlins U-Bahn wurde ursprünglich für eine fast doppelt so große Stadt angelegt. Doch dann kamen die fast völlige Zerstörung der Stadt am Ende des Zweiten Weltkriegs und schließlich die Teilung in Ost und West.

Zeiten der Teilung

Paradoxerweise war die Mauer gut für die U-Bahn. Sie durchkreuzte Pläne, aus Berlin eine Autostadt zu machen. Ohne den "antifaschistischen Schutzwall" - wie die DDR-Regierung die Mauer nannte - verliefe heute etwa durch einen Großteil des Stadtviertels Kreuzberg eine Stadtautobahn.

Bildergalerie zum Projekt "Endbahnhof" von der Berliner Fotografin Kate Seabrook
Seit 2011 denkmalgeschützt: der Bahnhof Pankstraße im WeddingBild: Kate Seabrook
Bildergalerie zum Projekt "Endbahnhof" von der Berliner Fotografin Kate Seabrook
Der Bahnsteig der U7 am Fehrbelliner Platz: Pop-Art von Rainer G. RümmlerBild: Kate Seabrook

Als West-Berlin in den Zeiten der Teilung seinen U-Bahnhöfen ein schickes Design verpasste, konterten die Behörden im Osten mit gewagter Ausstattung: 1987 und 1988 wurden anlässlich der 750-Jahr-Feier der Stadt historische Karten von Berlin (zumindest des Ostteils) in den Mauern der Haltestelle Märkisches Museum eingelassen. Ein Jahr später, als die Mauer fiel, waren sie überholt.

Bildergalerie zum Projekt "Endbahnhof" von der Berliner Fotografin Kate Seabrook
Die Station Rohrdamm auf der Linie U7: Muster verweisen auf die nahen WasserwerkeBild: Kate Seabrook

Nur die unbeliebten Geisterbahnhöfe ließ das DDR-Regime unverziert. Durch sie fuhren die U-Bahnen ohne zu halten - aus dem Westen kommend durch den Osten hindurch und wieder zurück in den Westen. Sie waren, abgesehen von ein paar gelangweilten, bewaffneten Wachen, vollkommen leblos. Doch genau das machte sie zu einer unterirdischen Markierung, die deutlich an die Teilung erinnerte - und später, als ihnen in den 90er Jahren wieder Leben eingehaucht wurde, an die Wiedervereinigung.

Denkmal einer vielgesichtigen Metropole

Kate Seabrook wurde klar, dass ein einzelnes Foto einer einzigen Berliner U-Bahn-Haltestelle weltverändernde Geschichten erzählen konnte. Wir stehen noch immer am Gleis der U3 am Fehrbelliner Platz, als Kate auf gerahmte Schwarzweiß-Fotos mit historischen Berliner Straßenszenen zeigt, die die ordentlich geflieste Wand zieren. Es sind Werke von Heinrich Zille, dem legendären Maler und Fotografen, der Anfang des 20. Jahrhunderts das Leben der Ärmsten in den Hinterhöfen der Stadt festhielt. Die Fotos wurden 1986 ebenfalls anlässlich der 750-Jahr-Feier angebracht. Vielleicht eine Geste der Versöhnung, da viele dieser armen Stadtbezirke im Osten lagen. Oder war es ganz einfach eine Gelegenheit, für den höheren Wohlstand im demokratischen freien Westen indirekt Werbung zu machen? "Wirklich interessant, dass Zilles Fotos des Proletariats in dieser repräsentativen Station angebracht wurden, in diesem reichen Stadtbezirk", findet Seabrook. "Es ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Berlin seine Vergangenheit begreift."

Kate hat offensichtlich viel über diese Stadt herausgefunden, seit sie die Berliner U-Bahn genauer ins Visier genommen hat. "Ein guter Weg, Berlin besser zu verstehen - nicht nur für mich, auch für andere", sagt sie. "Viele Leute haben mir schon gesagt, dass sie darauf zuvor nie geachtet haben." Für ein paar Euro bietet die Berliner U-Bahn nicht nur eine Fahrt von A nach B, sondern auch eine Zeitreise. Eine Chance, die Fassade dieser widersprüchlich gestalteten Metropole zu entdecken, ja, sie zu preisen.