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PolitikMarokko

Marokko als "Türsteher" der EU mit Eigeninteressen

Jennifer Holleis
23. Januar 2024

Marokko wird als Partner der EU im Bereich Migration immer wichtiger. 2023 hielt das Land rund 87.000 Migranten von der Reise nach Europa ab. Die Kooperation stärkt aber Rabats territorialen Anspruch auf die Westsahara.

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Ein Migrant läuft über ein Feld in der spanischen Enklave Melilla
Angekommen in Europa: Migrant in der spanischen Enklave Melilla Bild: Javier Bernardo/AP/dpa/picture alliance

Marokko nimmt seine Rolle als "Türsteher" für irreguläre Migration nach Europa nach eigener Darstellung immer ernster. Einer Erklärung der marokkanischen Streitkräfte zufolge wurden im Jahr 2023 rund 87.000 Migranten aufgehalten - ein starker Anstieg im Vergleich zu den rund 56.000 an der Weiterreise gehinderten Personen zwischen Januar und August 2022.

Die meisten Migranten wurden in der Nähe der marokkanischen Westküste aufgehalten, so die Armee. Von dort aus sind es nur rund hundert Kilometer bis zu den zu Spanien gehörenden Kanarischen Inseln.

Doch längst nicht alle werden aufgehalten. So gelang zwischen Januar und November 2023 knapp 57.000 Personen über die genannte Route die Reise auf die Kanaren. Das ist ein Rekordanstieg von 82 Prozent im Vergleich zu 2022, wie der Europäische Rat kürzlich mitteilte

Nicht alle Ankommenden reisen von Marokko aus an. Viele Migranten starten die Überfahrt von der Westküste Afrikas aus.

Die Statistik der aufgehaltenen sowie erfolgreich auf den Kanaren angekommenen Personen ist zudem unvollständig: Zu ergänzen ist sie um die während der Überfahrt verstorbenen Menschen, das sind immer wieder viele tragische Fälle. Im Jahr 2023 ertranken so viele Menschen wie nie zuvor im Atlantik. Angaben der spanischen Non-Profit-Organisation Caminando Fronteras zufolge kamen die meisten Menschen - knapp 6620 - zwischen Marokko und den Kanarischen Inseln ums Leben, das sind mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr.

"Es gibt viele Gründe, warum die so genannte Westroute zunehmend genutzt wird", sagt Sonja Hegasy, stellvertretende Direktorin des deutschen Forschungszentrums Leibniz-Zentrum Moderner Orient, im DW-Gespräch. "Der wichtigste ist, dass die anderen Routen noch gefährlicher sind."

In Libyen etwa sind die Bedingungen noch einmal deutlich härter, da Richtung Europa ziehende Migranten oftmals brutal zurückgedrängt und in Gefängnisse gesperrt werden, in denen unmenschliche Bedingungen herrschen. Auch andere nordafrikanische Länder seien nicht gerade für einen sanften Umgang mit Migranten bekannt, so Hegasy.

Geflüchtete in einem Camp in Melilla
Geflüchtete in einem Camp in MelillaBild: Fadel Senna/AFP/Getty Images

"Wichtiger Partner in Afrika" 

Die Rolle Marokkos als "Türsteher" der Europäischen Union in Sachen Migration dürfte in Zukunft wohl noch wichtiger werden. Denn im vergangenen Dezember einigten sich Marokko und die EU nach siebenjährigen Verhandlungen auf einen schon länger angestrebten Migrationspakt.

"Marokko ist ein wichtiger Partner in Afrika", erklärtedazu Hans Leijtens, Direktor von Frontex, der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache. 

Noch allerdings sei es von der Vereinbarung bis zur Umsetzung ein weiter Weg, sagt Camille Le Coz, stellvertretende Direktorin des Migration Policy Institute Europe, im DW-Gespräch. "Derzeit haben wir eine politische Vereinbarung, auf deren Grundlage die EU Budgets und Personal mobilisieren wird, um die entsprechende Infrastruktur zu schaffen", so Le Coz. "So wird der Migrationspakt erst in einigen Jahren Realität."

Die Kooperation hat allerdings politisch einen Preis: "Die Vereinbarung läuft darauf hinaus, dass die EU den territorialen Anspruch Marokkos auf die Westsahara unterstützt. Im Gegenzug unterstützt Marokko die europäische Flüchtlingspolitik", so Sonja Hegasy gegenüber DW.

Ernsthaft auf die Probe gestellt wurde das marokkanische Engagement bereits Anfang Januar 2024. In der Silvesternacht fingen die marokkanischen Streitkräfte laut eigenen Angaben rund 1100 Menschen aus Marokko, Algerien, Tunesien, Jemen sowie weitere Migranten aus Ländern südlich der Sahara ab. Sie alle befanden sich auf dem Weg zu den Kanarischen Inseln sowie zu den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla.

Ceuta und Melilla, zu Spanien gehörend  und an der Küste Nordmarokkos gelegen, sind die einzigen Landgrenzen der Europäischen Union mit dem afrikanischen Kontinent.

Migranten als Druckmittel

Für Marokko ist die Migration ein klassisches Druckmittel in den Verhandlungen mit der Europäischen Union", sagt Sarah Zaaimi, stellvertretende Direktorin für Kommunikation beim Washingtoner Think Tank Atlantic Council, der DW.

"In den Jahren 2020 und 2021, inmitten einer Krise mit Spanien, ließ Marokko absichtlich zu, dass einheimische und illegal einreisende Migranten die Grenzen der beiden Enklaven Ceuta und Melilla stürmten", so Zaaimi weiter. "Das führte zu großer Panik in der EU und in Madrid."

Zu einem Höhepunkt der Krise kam es im Juni 2022. Damals rannten rund 2000 Menschen in Richtung der Grenze zu Melilla. Es kam zu stundenlang anhaltender Gewalt, mindestens 23 Menschen verloren dabei ihr Leben. Danach entspannten sich die diplomatischen Beziehungen zwischen Marokko und Spanien wieder. "Diese Situation hat dann auch den Weg für eine Versöhnung zwischen Marokko und Spanien geebnet", sagt Zaaimi.

Westsahara als Verhandlungsmasse

Im Zuge der Annäherung erklärte Spanien sich bereit, Rabats territorialen Anspruch auf die Westsahara zu unterstützen - eine ehemalige spanische Kolonie, die 1975 weitgehend von Marokko annektiert wurde und seitdem ein von Migranten häufig genutzter Ausgangspunkt für die Überfahrt auf die Kanarische Inseln ist. Der völkerrechtliche Status der Westsahara ist international umstritten.

Allerdings ist Spanien nicht der erste Staat, der die Westsahara als marokkanisch anerkannt hat. Bereits im Jahr 2020 hatten die USA im Rahmen eines politischen Deals den Hoheitsanspruch Marokkos anerkannt. Im Gegenzug normalisierte das Königreich seine diplomatischen Beziehungen zu Israel.

Seitdem sind in der Westsahara zahlreiche, dem diplomatischen Kontakt mit Marokko dienende Konsulate afrikanischer Staaten eingerichtet worden. Auch die Golfstaaten unterstützen faktisch Rabats Anspruch auf die phosphatreiche Region - mit Infrastruktur- und Energieinvestitionen.

Allerdings werden Marokkos Ansprüche auf die Westsahara auf Ebene der Vereinten Nationen weiterhin nicht anerkannt. 

Im Westsahara-Konflikt ist auch die von Algerien unterstützte militärisch-politische Organisation Polisario-Front aktiv, die für die Unabhängigkeit der Westsahara kämpft. Für diese kämpft ein Teil der Saharauis, wie die Bewohner der Region heißen, seit rund 50 Jahren. Die dadurch ausgelösten Spannungen zwischen Marokko und seinem Nachbarn Algerien sind nach wie vor ungelöst.

Geflüchtete aus der Westsahara im kargen Smara-Camp im Südwesten Algeriens
Geflüchtete aus der Westsahara im Smara-Camp im Südwesten AlgeriensBild: Toufik Doudou/AP/picture alliance

Außenpolitischer Kurswechsel

"Marokko hat seinen politischen Anspruch auf die Westsahara jahrzehntelang durchgesetzt", sagt Hegasy. "Jetzt fühlt es sich vermutlich so sicher, so dass es seine Flüchtlingspolitik nutzt, um weiteren Druck auszuüben und die Entwicklung im eigenen Land voranzutreiben."

Tatsächlich scheinen politischen Motive für Marokko in der Kooperation mit Europa zu überwiegen. Auf finanzielle Hilfe scheint das Land weniger aus zu sein. "Die jüngsten Veränderungen in der marokkanischen Außenpolitik zeigen, dass das Königreich viel selbstbewusster, ja sogar aggressiver geworden ist", so Sarah Zaaimi vom Atlantic Council.

"Ich kann mir schwer vorstellen, dass Marokko Migranten als Druckmittel auch für Entwicklungshilfe einsetzen will. Das hat das Königreich bereits bei dem jüngsten Erdbeben bewiesen." Im vergangenen September zerstörte ein verheerendes Erdbeben Teile Marokkos. Knapp 3000 Menschen kamen dabei ums Leben. Die meisten Hilfsangebote aus dem Ausland - einschließlich der EU - lehnte das Land jedoch ab.

"Marokko setzt jetzt auf Souveränität gegenüber seinen alten kolonialen Beziehungen und will die Abhängigkeitsdynamik gegenüber der EU stoppen", so Zaaimi. "Darum diversifiziert Rabat seine Partner und setzt auch auf Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate, China, Saudi-Arabien, auf lateinamerikanische Staaten und sogar auf Russland."

Große Investitionsprojekte, wie die gemeinsame Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft 2030 zusammen mit Portugal, Pläne für einen Tunnel zwischen Europa und Afrika durch die Straße von Gibraltar und die Ansiedlung von Industrie stellten nun Marokkos neuen Prioritäten dar, so Zaaimi.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

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