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Wir sind ein Volk!

Felix Steiner19. Februar 2015

Deutschland 25 Jahre nach dem Mauerfall - wie nah stehen sich Ost- und Westdeutsche? Die Bundesregierung hat das untersuchen lassen. Mit wenig überraschenden Ergebnissen, meint Felix Steiner.

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Berlin: Feierlichkeiten zu 25 Jahre Mauerfall (Foto: Reuters)
Bild: REUTERS/View

Uns Deutsche zeichnen zwei Eigenschaften aus: Zum einen sind wir meistens sehr gründlich, bei dem was wir tun. Und zweitens stellen wir uns mit Vorliebe selbst in Frage. Wir fürchten, dass wir nicht normal sind - zu unserer nationalen Identität haben wir immer noch ein gestörtes Verhältnis. Zugegeben: Keine andere europäische Nation fand vor 25 Jahren zurück zur staatlichen Einheit, nachdem es 40 Jahre lang zwei Staaten mit völlig unterschiedlichen Gesellschaftssystemen gegeben hatte. Aber selbst wenn: Wer außer uns Deutschen würde 25 Jahre nach dem Fall der Mauer ein Forschungsprojekt auflegen, das allein die Frage untersucht: "Sind wir ein Volk?"

Bestellt hat die wissenschaftliche Fleißarbeit die Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer - ein Titel, dem längst etwas Anachronistisches anhaftet. Iris Gleicke, so heißt die gegenwärtige Amtsinhaberin, hat - wie alle Menschen in Ämtern und Funktionen - keinerlei Interesse daran, dass ihr Posten überflüssig erscheint. Und so hat sie das Forschungsergebnis nun mit einem geradezu salomonischen Satz vorgestellt: Deutschland sei zwar "vereint, aber noch nicht eins".

Was heißt "eins sein"?

Gegenfrage, Frau Gleicke: Können und wollen wir Deutschen überhaupt "eins" sein? Was heißt das eigentlich - eins sein? Müssen wir dann alle dieselben Ansichten und Wertvorstellungen haben? Preisen wir die Europäische Union, überhaupt die Kulturlandschaft Europa, nicht aufgrund ihrer großen Vielfalt? Macht die Vielfalt nicht gerade den Reichtum aus?

Warum also soll nun gerade in Deutschland etwas anderes erstrebenswert sein? Deswegen: Genau so, wie sich die Landschaft und die Stadtbilder in Oberbayern und an der mecklenburgischen Ostseeküste unterscheiden, genau so dürfen sich die Menschen, die dort leben, unterscheiden. Und mehr als das: Die Menschen dürfen sich unterscheiden, weil sie zum Beispiel Männer oder Frauen sind, Schwaben oder Friesen, Ingenieure oder Küchenhilfen, in der Großstadt leben oder auf dem Dorf. Oder eben auch, weil sie im früheren West- oder Ostdeutschland zuhause sind.

DW-Redakteur Felix Steiner (Foto: DW)
DW-Redakteur Felix SteinerBild: DW/M.Müller

Unterschiede wären erst dann ein Problem, wenn die Menschen in einem Landesteil das politische System Deutschlands mehrheitlich ablehnen würden. Oder wenn sie Hass und Abneigung gegenüber "den anderen" empfinden würden. All das aber ist in Deutschland überhaupt nicht der Fall: Die überwiegende Mehrheit der Deutschen ist zufrieden, steht fest zur Demokratie als Staatsform und hält die Vereinigung der beiden deutschen Staaten für einen Gewinn für beide Seiten. Da, wo es massive Unterschiede zwischen Ost und West in der Vergangenheit gab, sind sie innerhalb einer Generation signifikant abgeschmolzen. Was es heute noch an Unterschieden gibt, lässt sich durch die unterschiedlichen Lebenswege und -erfahrungen leicht erklären.

Diktatur und Systemwechsel prägen

Ein Beispiel: Nur 46 Prozent der Ostdeutschen halten die frühere DDR für einen "Unrechtsstaat". Im Westen ist dieser Anteil - wenig überraschend - deutlich höher. Dieser Befund muss Opfer des früheren Systems naturgemäß schmerzen, geht es doch auch um Jahrzehnte ihres Lebens, ihres Alltags. Andererseits müsste jeder, der sich bewusst war, in einem Unrechtsstaat zu leben, die Frage nach seiner eigenen Verstrickung stellen: Was wusste ich von dem, was das Regime tat? War ich selbst Täter? Warum habe ich keinen Widerstand geleistet? Dass die meisten dieser Frage ausweichen, ist nachvollziehbar. In der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre war genau dasselbe Phänomen zu beobachten, sobald es um den - ansonsten mit der DDR nicht zu vergleichenden - NS-Staat ging.

Deswegen ist die positivste Botschaft der Studie: Bei den jungen Menschen, die erst nach dem Mauerfall geboren wurden, sind schon heute keine Unterschiede im Welt- und Wertebild feststellbar. Bei den angenehmen Befunden genauso wie bei den negativen - zum Beispiel mit Blick auf Ausländerfeindlichkeit oder Antisemitismus. Spätestens in 25 Jahren wird deshalb auch Iris Gleicke feststellen können, dass wir Deutschen "eins" sind. Ich meine, schon heute gilt, wie vor 25 Jahren: Wir sind ein Volk!