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Das Phänomen Brandt

Volker Wagener17. Dezember 2013

Adenauer wurde geachtet, Schmidt respektiert, Kohl erst verspottet, dann gefeiert. Willy Brandt aber wurde bewundert. Er wäre in diesen Tagen 100 Jahre alt geworden - der andere deutsche Kanzler, findet Volker Wagener.

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DW-Innenpolitik-Experte Volker Wagener (Foto: DW)
Bild: DW

Warum erinnere ich mich immer wieder an diesen Mann? Und warum mit soviel Anteilnahme? Fast 40 Jahre nach seinem Rücktritt als Kanzler. Es muss an den Emotionen liegen, die er damals auslöste. Sogar unter Schülern, wie ich damals einer war. Jede Zeit, so sagt man, hat ihre Akteure. Willy Brandt war so ein Mensch, einer, der einer Zeit einen Namen gab. Aufbruchsjahre nennen Chronisten die erste Hälfte der Brandt-Regierung.

Mensch Willy

Die, die ihn Ende der 60er/ Anfang der 70er Jahre erlebten, fühlten sich buchstäblich angesprochen. Seine Worte, die knarzige Stimme mit den unverwechselbaren Pausen und Betonungen, sie war einfach zum Zuhören. Er hatte Themen die neu, ja, revolutionär klangen. "Wir wollen mehr Demokratie wagen", lautete sein Leitmotiv. Alles war anders an ihm. Brandt war vielsprachig in einer Zeit, da die meisten Deutschen noch keinen Auslandsurlaub kannten. Er verkörperte, obwohl nicht mehr ganz jung, das Jugendliche. Und er suchte Rat, Inspiration und Unterstützung bei Künstlern. Alles zusammen genommen war es das endgültige Ende der Adenauerzeit, in der mausgraue ältere Herren Politik im Hinterzimmer betrieben und Frauen an den Herd gehörten.

Mit Brandt kam Farbe ins öffentliche Leben. Willy elektrisierte einfach. Willy wählen! -nie zuvor hatte ein Politiker nur mit seinem Vornamen geworben. Später erfanden dann Soziologen den Begriff "Generation Willy". In Scharen traten Junge und auch Ältere in die SPD ein. Die Sozialdemokratie erlebte unter Willy Brandt einen Höhepunkt ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz. Sein Aufstieg hatte etwas Begeisterndes, sein politisches Ende etwas Tragisches.

Emigrant und deutscher Patriot

Brandt war der andere Deutsche. Seine uneheliche Geburt machte ihn für viele Altersgenossen zum gesellschaftlichen Außenseiter. Das hat ihm weh getan. Vor allem aber wusste er von Anfang an wo er zu stehen hatte in der Nazizeit - draußen, als Emigrant. Seine Prägungen in dieser Zeit unterschieden sich fundamental von denen seiner Landsleute im NS-Deutschland. Er war weder Täter noch Mitläufer, auch keiner, der sich arrangieren wollte. Jahrelang haben ihn seine politischen Gegner auch deswegen zu diskreditieren versucht. Es waren dieselben, die es für völlig normal hielten, dass Alt-Nazis weiter in gehobenen und höchsten Positionen ihre zweite Karriere machen konnten.

Brandt hat seine eigene Biographie nie als moralische Keule gegen die NS-Mitläufer eingesetzt. Eine menschliche Größe, die auch im Nachhinein betrachtet, selten gewürdigt worden ist.

Brandt war - auch das ist erst langsam ins Bewusstsein gekommen - ein großer deutscher Patriot. Die größten Probleme damit hatten bezeichnenderweise seine Parteifreunde. Wer links ist, denkt in internationalen Kategorien, der Begriff Vaterland war bei vielen Sozialdemokraten ein Unwort und das ausgerechnet als die Mauer fiel. Was für ein groteskes Schauspiel hatten uns Teile der SPD und führende Köpfe der linken Intelligenzia 1989/90 geboten, als ein Ostdeutschland zwischen Kapitalismus und Sozialismus gefordert wurde. Nur bloß kein Groß-Deutschland! Willy Brandt war da seiner Partei so fern und Helmut Kohl so nah.

Keine Zukunft ohne Vergangenheit

Geradezu visionär: Brandts Ostpolitik. Damals gewagt, die Geschichte aber hat sie bestätigt. So wichtig die Westanbindungspolitik Adenauers auch für den wirtschaftlichen Aufstieg Westdeutschlands war, so einseitig war sie auch. Brandt brachte wieder Balance in die Außenpolitik. "Wandel durch Annährung", lautete das Motto im Umgang mit der DDR, Polen, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion. Er war zutiefst überzeugt, dass es keine Zukunft geben werde, wenn der Vergangenheit nicht Rechnung getragen wird. Er war der Realität näher als die CDU, die nicht preisgeben wollte, was schon lange nicht mehr da war: die ehemals deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße. Dies anerkannt zu haben, hat erst Normalität im zwischenstaatlichen Verhältnis ermöglicht. Verbunden mit der Schuldanerkenntnis an Krieg und Verbrechen, die im Kniefall von Warschau als geradezu biblische Geste im Langzeitgedächtnis bleiben wird. Immer war im Politiker Brandt auch der Mensch Brandt zu sehen.

Und auch politisch-handwerklich hat Brandt zusammen mit seinem Strategen für die Ostpolitik, Egon Bahr, buchstäblich Weltveränderndes geschaffen. Der damals harmlos klingende Satz im deutsch-sowjetischen Vertrag von 1970, demnach Grenzen nur im gegenseitigen Einverständnis geändert werden können, ist - aus heutiger Perspektive - der Anfang vom Ende des Sowjet-Imperiums gewesen. Dieser Satz war das einzige, was der sowjetischen Führung damals abzuringen war. Die tiefere Bedeutung dieser umkämpften Formulierung wurde uns erst 1989/90 klar, als die Regierung der DDR, der Bundesrepublik und der Sowjetunion einvernehmlich die innerdeutsche Grenze aufhoben. So gesehen ist Brandt der Vater der Einheit und Kohl ihr Manager. Die beiden deutschen Patrioten, die unterschiedlicher nicht sein konnten, haben sich im Alter als Polit-Pensionäre blendend verstanden.

Der tragische Held

Sein Rücktritt 1974, ausgelöst durch eine Spionage-Affäre, hatte etwas Tragisches. Der Spion aus Ost-Berlin an seiner Seite, war nur Auslöser, nicht Ursache. Von Frauen-Affären war die Rede, von Depressionen. Doch war der Rücktritt von der Kanzlerschaft noch lange nicht sein politisches Ende: 13 Jahre blieb er noch Vorsitzender der SPD und machte aus dieser Position heraus seinem Nachfolger Helmut Schmidt mehr als nur einmal das Leben schwer. Was bleibt, ist die Erinnerung an einen Kanzler, der auf öffentlicher Bühne ein Leben, eine Biographie vorzuweisen hatte. Eines mit Ecken und Kanten. Er war kein glatter Funktionär wie viele heutige Politiker. Widersprüchlich war er und sich selbst manchmal unerklärlich. Brandt war eben vor allem ein Mensch.