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Deeskalation unerwünscht

Rainer Sollich11. November 2014

Eine Seite schlägt zu und die andere erbarmungslos zurück: Doch die jüngste Gewaltwelle in Israel und den Palästinensergebieten kommt den politischen Akteuren vor Ort nicht ganz ungelegen, meint Rainer Sollich.

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Israelischer Polizist neben palästinensischem Mann Israel Palästina
Bild: Reuters/Finbarr O'Reilly

Wieder einmal kocht im Heiligen Land die Stimmung hoch: Arabische Jugendliche greifen Sicherheitskräfte und Zivilisten mit Messern und Steinen an oder rasen mit Autos in Menschenmengen. Es gibt Tote. Israels Polizei ist ebenfalls nicht zimperlich und erschießt zwei junge arabische Demonstranten. Dabei bleiben in einem Falle erhebliche Zweifel an der offiziellen Darstellung, dass der mit einem Messer bewaffnete Jugendliche erst nach mehreren Warnschüssen niedergestreckt worden sei. Die Palästinenser sprechen von Mord. Doch auch dies ist bisher nicht beweisbar.

Märtyrer oder Terroristen?

Ohnehin glaubt jede Seite wieder einmal nur, woran sie auf Basis verinnerlichter Feindbilder glauben möchte und zu glauben gewohnt ist: Schuld ist immer die Gegenseite - das altbekannte Muster der gegenseitigen Schuldzuweisungen in Nahost. Flankierend wird aber auch sprachlich aufgerüstet: Attentäter, die vorsätzlich Zivilisten getötet haben, werden auf palästinensischer Seite unwidersprochen als "Märtyrer" verherrlicht. Und auf israelischer Seite gießt Regierungchef Benjamin Netanjahu höchstpersönlich und mit erkennbarer Absicht weiteres Öl ins Feuer, in dem er Randalierer auf eine Stufe mit Terroristen stellt und androht, ihre Häuser zu sprengen oder ihnen die israelische Staatsbürgerschaft wegzunehmen, um sie "nach Gaza" zu verbannen.

Doch worum geht es überhaupt? Entzündet hatten sich die Unruhen zunächst an dem neuerlichen Versuch rechter nationalreligiöser Kräfte, das alleinige Gebetsrecht für Muslime auf dem Tempelberg beziehungsweise auf dem Areal der Al-Aksa-Moschee zu durchbrechen und jüdische Pilger dorthin zu lassen. Netanjahu beteuert zwar, am bisherigen Status des Tempelbergs nicht rütteln zu wollen. Doch entsprechende Bestrebungen gibt es sogar in seiner eigenen Partei und Regierungskoalition. Und sie werden nicht nur von den Palästinensern als gezielte Provokation verstanden: Jordaniens König hat deswegen sogar seinen Botschafter aus Israel zurückbeordert, während die oppositionellen Muslimbrüder in Amman bereits lautstark einen Abbruch der Beziehungen fordern.

Paranoia und Verschwörungstheorien

Spätestens seit Israels damaliger Regierungschef Ariel Scharon im Jahr 2000 mit einem provokativ inszenierten Besuch auf dem Tempelberg die zweite Intifada auslöste, sollte allgemein bekannt sein, wie leicht mit diesem Juden und Muslimen gleichermaßen heiligen Areal eine gefährliche Stimmung erzeugt werden kann. Radikalen Kräften auf palästinensischer Seite reicht meist schon der Verdacht auf eine beabsichtige Änderung des Status Quo durch Israel, um Unruhen zu schüren und frustrierte Jugendliche zu mobilisieren. Dass Israels Regierung mit Rücksicht auf ultrarechte Kräfte in den eigenen Reihen hier eine allzu klare Positionierung vermeidet, befeuert auf arabischer und islamischer Seite erst recht irrationale Paranoia und Verschwörungstheorien. Das Attentat auf den ultrareligiösen israelischen Aktivisten Jehuda Glick vor einer Woche gehört mit in diesen Zusammenhang.

An Deeskalation haben derzeit offenbar beide Seiten kein Interesse - im Gegenteil: Terror und Gewalt liefern Netanjahu einen idealen Vorwand, um mit immer neuen und weitflächiger ausgebauten jüdischen Siedlungen weiter Fakten auf dem Boden zu schaffen. Nicht nur die Gründung eines lebensfähigen Palästinenserstaates wird dadurch erheblich erschwert, sondern auch das erklärte Ziel der Palästinenser, Ost-Jerusalem dereinst zur Hauptstadt ihres Landes zu machen. Zunehmend harsche Kritik aus Washington und anderen westlichen Ländern an Israels offensiver Siedlungspolitik hat Netanjahu hier bisher ebenso wenig beeindrucken können wie Vorstöße aus Europa, einen palästinensischen Staat schon vor einer endgültigen Friedenssregelung anzuerkennen. Netanjahu weiß sehr genau: Schärfere Maßnahmen als solche symbolischen Schritte hat Israels Regierung aus westlichen Ländern und insbesondere aus den USA einstweilen nicht zu befürchten.

Droht eine neue Intifada?

Doch auch von Palästinenser-Präsident Mahmoud Abbas sind derzeit kaum Versöhnungssignale zu erwarten. So sehr wie auf arabischer Seite die Emotionen hochkochen, wäre dies tatsächlich auch sehr riskant für ihn. Besonders mutig aber war Abbas noch nie, sehr wohl jedoch machthungrig. Das heißt, auch er dürfte im Zweifel eher weiter an der Eskalationsschraube drehen, als sich mit Friedensappellen innenpolitisch selbst ins Abseits zu stellen. Dass die von vielen Beobachtern bereits vorausgesagte "dritte Initifada" die Gründung eines palästinensischen Staates erst recht in weite Ferne rücken lassen würde, würde er dabei gewiss in Kauf nehmen.

Deutsche Welle Rainer Sollich Arabische Redaktion
Rainer Sollich, Redakteur bei DW-ArabischBild: DW/P. Henriksen