1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Anpassen oder schweigen

3. November 2019

Die deutsche Gesellschaft lässt immer weniger Meinungsvielfalt zu und unterwirft sich einem gefährlichen Einheitsdenken. Die Demokratie untergräbt sich damit auf Dauer selbst, meint Christoph Hasselbach.

https://p.dw.com/p/3SHDk
Symbolbild | Meinungsfreiheit / Redeverbot
Bild: picture-alliance/imageBROKER/C. Ohde

"Ich bin nicht einverstanden mit dem, was Sie sagen, aber ich würde bis zum äußersten dafür kämpfen, dass Sie es sagen dürfen." Die Störer der Vorlesung des Gründers der rechtspopulistischen Partei AfD, Bernd Lucke, an der Hamburger Universität sollten sich dieses Zitat des französischen Aufklärers Voltaire einmal zu Herzen nehmen. Der Satz beschreibt nämlich eine der Grundlagen der Demokratie: die Meinungsfreiheit. Die ist heute in Deutschland gefährdeter, als viele denken. 

Wohl wahr: Wer bestimmte, vom Mainstream abweiche Positionen vertritt, landet hierzulande gewiss nicht im Gefängnis. Formal ist die Meinungsfreiheit gewährleistet. Ihm droht aber schnell die Ächtung der Gesellschaft, zumindest des tonangebenden Teils der Gesellschaft.

Ausgerechnet die Hochschulen!

Der Fall von Bernd Lucke ist besonders extrem. Bei ihm geht es nicht einmal um das Thema seiner wirtschaftswissenschaftlichen Vorlesung, die schon zweimal abgebrochen werden musste und nur unter Polizeischutz stattfinden kann. Nein, den Aktivisten reicht die Tatsache, dass Lucke einer der Väter der AfD war. Dabei hat Lucke die Partei längst verlassen, eben weil sie ihm zu rechts wurde! Ginge es nach den Demonstranten, dürfte der Mann in der Öffentlichkeit gar nicht mehr sprechen - egal zu welchem Thema.

Hasselbach Christoph Kommentarbild App
DW-Redakteur Christoph Hasselbach

Ähnlich wie Lucke erging es kürzlich dem ehemaligen christdemokratischen Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Seine geplante Lesung an der Göttinger Universität musste nach einer Blockadeaktion linker Gruppen abgesagt werden. Wenn nicht einmal mehr die Hochschulen ein Ort offener Debatten sind, wohin sind wir dann gekommen?  

Das allgemein akzeptierte Meinungsspektrum wird immer schmaler. Das empfindet auch ein Großteil der Bevölkerung so: In mehreren Umfragen sagt jeweils eine deutliche Mehrheit der Befragten, man müsse bei bestimmten Themen sehr aufpassen, was man sage. Denn sonst drohe Ausgrenzung und Isolation im Kollegen- und Freundeskreis, der Nachbarschaft. Und jeder berufliche Aufstieg werde unmöglich.

An erster Stelle nennen die meisten alles, was mit Migration zu tun hat. Die sogenannte Seenotrettung von Flüchtlingen im Mittelmeer ist ein Paradebeispiel dafür, das jeder zum radikalen Unmensch erklärt wird, der auch nur die leisesten Zweifel daran äußert. Dabei wissen alle, dass die Seenot bewusst herbeigeführt wird und Teil eines gut organisierten Menschenschmuggels von Afrika nach Europa ist. Selbst Bundesinnenminister Horst Seehofer ist hier in den engen Meinungskorridor eingeschwenkt. Bei seiner Vorgeschichte als rechter Rebell innerhalb der Unionsparteien will das etwas heißen! 

Wir legen unserem Denken Fesseln an

Ähnlich strenge, ungeschriebene Vorgaben gelten bei der Klimathematik. Wer vorsichtig anmerkt, die sozialen Aspekte einer radikalen Abkehr von unserem Lebensstil sollten doch auch berücksichtigt werden, macht sich schon sehr verdächtig, weil er ja die Dramatik der Lage negiere. Und wer sich gar als reueloser Fleischesser, Fernflieger oder SUV-Fahrer bekennt, verliert als öffentliche Figur jede Akzeptanz. Radikale Klimaschützer wie Roger Hallam von "Extinction Rebellion" oder die SeaWatch 3-Kapitänin Carola Rackete dürfen dagegen die Demokratie als Staatsform ganz grundsätzlich infrage stellen, ohne ins Abseits zu geraten.

Die Tabumeinungen stehen auf keiner Verbotsliste. Aber jeder kennt sie. Und die meisten Menschen halten sich in ihren öffentlichen Äußerungen aus gutem Grund an die Grenzen, die der Zeitgeist zieht. Das ist das Fatale: Wir legen uns selbst Fesseln an. Doch die Demokratie lebt vom Streit, von der Meinungsvielfalt. Ist die Bandbreite zu eng, weil Abweichler Angst haben, sich zu äußern, wird die Gesellschaft träge. Und am Ende nimmt sie sich eines ihrer wichtigsten demokratischen Grundrechte: die Freiheit, auch unbequeme Ansichten zu äußern.           

Christoph Hasselbach
Christoph Hasselbach Autor, Auslandskorrespondent und Kommentator für internationale Politik