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KonflikteNahost

Keine Zuflucht für Schutzsuchende in Gaza

Tania Krämer | Hazem Balousha
9. Dezember 2023

Die israelische Armee dehnt ihre Bodenoffensive auf den südlichen Gazastreifen aus. Für Palästinenser auf der Flucht wird es immer schwieriger, einen sicheren Ort zu finden.

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Blick aus einem zerstörten Gebäude
Durch Bombeneinschläge beschädigte Gebäude in Rafah, an der Grenze zu ÄgyptenBild: Mohammed Salem/REUTERS

Für die Palästinenser in Gaza sind es niederschmetternde Nachrichten. Zwei Monate nach Beginn des Krieges hat die israelische Armee ihre Bodenoffensive vom Norden des Gazastreifens in den Süden ausgedehnt. Dort, wo Zehntausende von Ort zu Ort ziehen, um so etwas wie Sicherheit zu finden, die es nirgendwo in dem kleinen Gebiet gibt. 

"Wir haben einen Punkt erreicht, an dem uns nichts mehr ein Gefühl der Sicherheit gibt. Wir haben unsere Arbeit verloren, Familienmitglieder, unser Zuhause, unseren Glauben, und selbst unsere Heimat-Stadt", sagt Hana Awad, eine junge Unternehmerin, die schon in den ersten Tagen des Krieges aus Gaza-Stadt fliehen musste.

Als Israel Ende Oktober seine Bodenoffensive startete, machte sich Awad mit ihrer Familie auf den Weg nach Rafah, eine Stadt im Süden des Gazastreifens an der Grenze zu Ägypten. Obwohl das israelische Militär die Bewohner angewiesen hatte, sich in "sicherere Gebiete" im südlichen Gazastreifen zu begeben, wurde auch der Süden immer wieder bombardiert.

"Das Leben in Rafah ist wegen der wachsenden Zahl der Vertriebenen, die aus Chan Junis hier ankommen, extrem schwierig geworden. Sie kommen jetzt zu all den Menschen hinzu, die zuvor aus anderen Regionen im Gazastreifen vertrieben wurden", berichtet Awad in einer WhatsApp-Nachricht, in der im Hintergrund das laute Summen israelischer Drohnen zu hören ist. "Ein wirklich sicherer Ort ist kaum zu finden", meint Awad.

Denn auch im Süden wird nun schwer gekämpft, vor allen Dingen in Chan Junis, der zweitgrößten Stadt des Gazastreifens. Mittlerweile befänden sich die israelischen Streitkräfte "im Herzen" der Stadt, wie die israelischen Verteidigungskräfte (IDF) am Mittwoch mitteilten. Das Militär forderte in den vergangenen Tagen die Bevölkerung in mehreren Teilen der Stadt auf, weiter westlich oder südlich nach Rafah zu ziehen.

Eine Familie in einem vollbeladenen PKW
Immer mehr Menschen fliehen in den Süden des GazastreifensBild: Mohammed Abed/AFP

Vor der einwöchigen Feuerpause, die am 24. November begann, hatte das israelische Militär bereits die Bewohner der östlichen Stadtteile von Chan Junis angewiesen, das Gebiet zu verlassen. Angaben des Militärs zufolge sollen sich mehrere Anführer der Hamas in Chan Junis aufhalten. Sie ist die Heimatstadt von Hamas-Chef Jihia al-Sinwar, der als geistiger Urheber der Terroranschläge vom 7. Oktober gilt.

In einer Videobotschaft erklärte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Mittwoch "unsere Streitkräfte können jeden Punkt im Gazastreifen erreichen. Gerade umstellen sie das Haus von al-Sinwar". Es sei nur ein Frage der Zeit, bis al-Sinwar gefasst würde.

Kaum humanitäre Hilfe möglich

Die einwöchige Unterbrechung der Kampfhandlungen zwischen Israel und der militant-islamistischen Hamas, die von den USA, der EU, Deutschland und vielen anderen Ländern als Terrororganisation eingestuft wird, endete am 1. Dezember.

Während der Waffenruhe ließ die Hamas 110 von ihr entführte israelische und ausländische Geiseln frei. Israel entließ im Gegenzug 240 Häftlinge aus israelischen Gefängnissen. Die Wiederaufnahme der Kämpfe führt nun für die in Gaza lebenden Menschen zu noch mehr Not und Verzweiflung. Während der Waffenruhe erreichten Gaza als Teil der Vereinbarung mehr Hilfsgüter über den Grenzübergang Rafah, doch es ist nur ein Bruchteil dessen, was vor dem 7. Oktober über diesen Grenzübergang aus Ägypten in den Gazastreifen gelangte. Angesichts der Zerstörung und der Zahl der Vertriebenen reicht das bei weitem nicht aus, um den tatsächlichen Bedarf vor Ort zu decken.

Junger verletzter Palästinenser kniet vor einem Leichensack
Ein junger Palästinenser trauert um einen getöteten FamilienangehörigenBild: Hatem Ali/AP Photo/picture alliance

UN-Generalsekretär Antonio Guterres warnte, dass es durch die intensiven Kämpfe im Süden mittlerweile nahezu unmöglich sei, auch nur ein Mindestmaß an humanitärer Hilfe in den Gazastreifen zu bringen und dort zu verteilen.

"Angesichts des ständigen Bombardements durch die israelischen Streitkräfte, ohne die Möglichkeit, Schutz zu finden, ohne Versorgung mit dem Lebensnotwendigen, rechne ich damit, dass die öffentliche Ordnung in dieser verzweifelten Lage bald völlig zusammenbrechen wird. Selbst eine begrenzte humanitäre Hilfe wird dann unmöglich sein", appellierte der UN-Generalsekretär in einem Schreiben an den UN-Sicherheitsrat. Er aktivierte damit den selten genutzten Artikel 99 der UN-Charta, um damit den UN-Sicherheitsrat einzuschalten und auf eine humanitäre Waffenruhe zu drängen. 

Lebensbedingungen verschlechtern sich weiter

Laut Vereinten Nationen wurden durch den Krieg etwa 1,9 Millionen der rund 2,2 Millionen Bewohner des Gazastreifens, also ungefähr 85 Prozent seiner Bewohner, vertrieben. Während tausende noch im Norden ausharren, sind viele den Anweisungen der IDF gefolgt, sich in den Süden zu begeben. Aber nun wird auch dort der Raum immer knapper. Schulen des Flüchtlingshilfswerk für Palästinenser (UNWRA) sind schon lange überfüllt, wer Glück hat, kann bei Verwandten unterkommen, viele andere müssen in Zelten oder in ihren Autos leben. 

"Es gibt keine Lebensmittel mehr, keine Matratzen, keine Decken. Die Neuankömmlinge der letzten beiden Tage behelfen sich mit Nylonplanen, die sie auf den Boden legen, um ein wenig Schutz zu haben", erzählt Awad und fügt hinzu: "Einige schlafen in ihren Autos, andere einfach auf den Straßen und Gehwegen. Das winterliche Wetter macht das Leben noch härter und beschwerlicher."

Jüngsten Zahlen des Hamas-geführten Gesundheitsministeriums in Gaza zufolge wurden seit Beginn des Krieges fast 17.500 Palästinenser - die meisten davon Frauen und Kinder - getötet. Viele weitere werden vermisst. Sie sind vermutlich unter den Trümmern begraben und warten noch auf Rettung oder können nur noch tot geborgen werden.

Angesichts der hohen Zahl palästinensischer Opfer verweisen die israelische Regierung und das Militär auf die Hamas, die Zivilisten als menschliche Schutzschilde benutze. Auslöser für die israelische Militäraktion im Gazastreifen war der Terrorangriff am 7. Oktober, bei dem Kämpfer der Hamas Zivilisten aller Altersgruppen töteten und als Geiseln nahmen. 1200 Menschen wurden bei dem Angriff getötet, etwa 240 israelische und andere Staatsangehörige wurden entführt. Etwa 138 Geiseln werden noch immer in Gaza vermutet.

Fehlende Informationen

Zwei Monate nach Beginn des Krieges werden die Rufe zwar lauter, dass Israel mehr tun müsse, um weitere Vertreibungen und Todesopfer unter den Zivilisten zu vermeiden. Vor einigen Tagen veröffentlichte das israelische Militär eine Karte, die den Gazastreifen in zahlreiche Bezirke unterteilt. Diese soll die Menschen warnen, wo gekämpft wird, so das Militär. Die Karte ist im Internet verfügbar, doch regierungsunabhängige Organisationen und Bewohner sehen darin keine Hilfe. Die instabilen Kommunikationsnetzwerke und der häufigen Stromausfälle machen es kaum möglich, die Karte aufzurufen.

Eine Person hält das Flugblatt und eine Handy in den Händen
Die israelische Luftwaffe wirft Flugblätter ab, in denen sie die Bewohner auffordert, bestimmte Bezirke zu räumenBild: Abed Zagout/Andalou/picture alliance

Fares Ibrahim und seine Familie kommen aus dem Osten von Chan Junis. Seit der Krieg begann, mussten sie schon mehrfach von Ort zu Ort ziehen, um Schutz zu suchen. Der DW berichtet der 41-Jährige, dass er von der Karte gehört habe. Auch aufgezeichnete Telefonnachrichten und Flugblätter der IDF habe er erhalten, mit Anweisungen, sich von bestimmten Gebieten fernzuhalten. Aber die Nachrichten seien "nicht eindeutig" und keiner wisse mehr, wo sie eigentlich noch hinsollen.

 "Die Informationen, die wir haben, stammen aus solchen Flugblättern, aber vor allem auch aus Gesprächen untereinander. Aber wir sind unsicher, wo genau wir hin sollen. Zugang zum Internet haben wir nicht", erklärt Ibrahim der DW am Telefon.

Für den Moment ist Ibrahim mit seiner Familie in einer Schule in Chan Junis untergekommen. "Trotz der Zusicherungen, dass Zivilisten geschützt werden, werden viele Viertel von Chan Junis weiterhin angegriffen und Menschen kommen um", erzählt Ibrahim, der sich große Sorgen macht, wie es weitergeht. Denn es wird viel darüber gesprochen, was die Bodenoffensive für die Stadt und die Menschen dort bedeutet. "Die Unsicherheit ist enorm."

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.

Porträt einer Frau mit dunklen Haaren
Tania Krämer DW-Korrespondentin, Autorin, Reporterin