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IS bringt seine Glaubensbrüder um

Birgit Svensson, Bagdad7. November 2014

Fast 300 Mitglieder eines sunnitischen Stammes sollen in der irakischen Provinz Anbar von der sunnitischen Terrormiliz "Islamischer Staat" hingerichtet worden sein. Aus Bagdad berichtet Birgit Svensson.

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Propaganda-Foto des Islamischen Staats (Foto: ABACAPRESS.COM)
Bild: picture alliance/abaca

Sie mussten sich in einer Reihe aufstellen und erschießen lassen: Männer, Frauen und Kinder des Albu Nimr Stammes in der irakischen Provinz Anbar. Bis zu 300 Mitglieder des Stammes, der im Gebiet des Euphrat-Staudammes bei Haditha beheimatet ist, seien in den letzten Tagen von Mitgliedern der Terrormiliz IS hingerichtet worden. Sie wollten sich den Regeln des Kalifats, wie der IS seinen selbst ausgerufenen Staat nennt, nicht unterwerfen. Dafür mussten sie mit dem Leben bezahlen. Die Mördermiliz spart niemanden aus. Schiiten, Christen, Jesiden, Turkmenen, Schabak: Alle Volksgruppen Iraks sind bereits Opfer des IS geworden. Doch jetzt bringen die islamistischen Gotteskrieger auch ihre eigenen, sunnitischen Glaubensbrüder um.

Nachrichten aus Iraks flächenmäßig größter Provinz dringen nur spärlich an die Öffentlichkeit. Noch unter Premierminister Nuri al-Maliki wurde eine Nachrichtensperre verhängt, die von seinem Nachfolger Haider al-Abadi bisher nicht aufgehoben wurde. Zudem ist es für Journalisten sehr gefährlich, nach Anbar zu reisen. Ein am Wochenende nach Bagdad einberufenes Treffen von Stammesführern aus den nördlich der Hauptstadt liegenden Provinzen, bringt neue Nachrichten und Erkenntnisse. Nur so finden die Informationen des Massakers an den Mitgliedern des Albu Nimr Stammes ihre Verbreitung. Es gilt, eine gemeinsame Strategie gegen die Terrorbande zu entwickeln. Doch die Scheichs sind gespalten. Einige Stämme sind noch nicht bereit, mit der Regierung gegen den IS zusammenzuarbeiten. Andere, wie Albu Nimr, haben sich dagegen eindeutig positioniert und mussten bitter dafür bezahlen. Die Verunsicherung ist groß.

Karte vom Irak mit der Provinz Anbar und dem Nachbarland Syrien
Riesige Provinz - wenig Informationen: Die Nachrichtensperre bleibt auch unter dem neuen Premierminister bestehen.

Hetzjagd auf Sunniten

Scheich Matlb Ali Al-Mesary ist zu dem Treffen nach Bagdad gekommen. Der Stammesführer aus Falludscha sieht aus wie ein normaler, gut gekleideter Iraker mit Anzug und Krawatte. Sein traditionelles, langes Gewand, die weiße Kopfbedeckung und die schwarze Kordel hat er abgelegt. "Ich bin bedroht worden", sagt der Präsident der "Konföderation patriotischer Stämme Iraks" zur Erklärung seines Wandels. "Alle sunnitischen Scheichs von Anbar müssen um ihr Leben bangen." Zwar gehört Matlb nicht dem Albu Nimr Stamm an, der jetzt von IS niedergemetzelt wird. Dafür wurden er und seine Stammesmitglieder vom früheren schiitischen Premier Maliki bedroht.

Dessen Hetzjagd gegen die Sunniten führte bis ins Wohnzimmer der Scheichs. Willkürlich überfielen Soldaten der irakischen Armee Häuser und Wohnungen in Falludscha, Ramadi und anderen Städten der Provinz Anbar, die unmittelbar im Westen an Bagdad grenzt. Sie beschlagnahmten alle Waffen, die sie finden konnten, verhafteten viele Männer und auch Frauen, die sie des Terrors verdächtigten. "Die Soldaten waren Schiiten, so wie der Regierungschef", weiß Al-Mesary. Die schiitischen Stammesführer bekämen alles, Waffen, Ausrüstung, Geld, jegliche Unterstützung. "Wir hatten zum Schluss nichts mehr, konnten nicht mal mehr unsere Familien richtig ernähren: Sie machten uns wehrlos." Und dann kam "Daesh", wie der IS auf Arabisch heißt.

Porträt von Nuri al-Maliki (Foto: Getty Images)
Hassobjekt für viele: Nuri al-Maliki war von April 2006 bis August 2014 irakischer PremierministerBild: Getty Images

Leichtes Spiel in Anbar

Es sei ein Leichtes für den IS gewesen, in Anbar Fuß zu fassen, erklärt der Scheich. Ein Jahr lang habe man erfolglos gegen die Willkür der Maliki-Regierung protestiert. In Falludscha und Ramadi gab es Protestcamps, die mehrheitlich friedlich abliefen. Doch die Forderungen der Demonstranten gegenüber der Zentralregierung wurden nicht erhört. Im Gegenteil: Gewaltvoll hat die irakische Armee die Camps aufzulösen versucht. Dadurch seien die Menschen radikal geworden.

Als die Leute von Daesh im Januar Falludscha eroberten, bekamen sie viel Zustimmung von den Einwohnern, die sich kooperativ zeigten. Der Feind war nicht IS, sondern Maliki in Bagdad. Von da an expandierte der IS in den Rest der Provinz. Anbar grenzt an Syrien und Jordanien. 80 Prozent soll inzwischen in der Hand der Mörderbande sein. Der Gouverneur der Provinz lancierte einen Hilferuf, indem er ausländische Truppen forderte. Die irakische Armee und die Polizeikräfte werden der Lage nicht mehr Herr. Der Scheich hat erfahren, dass immer mehr Soldaten desertieren und durch schiitische Freiwillige ersetzt werden.

Anruf in Falludscha

Matlb spricht mit seinem Kollegen in Falludscha am Telefon, will wissen, wie die Lage dort ist. Die Preise würden derzeit ins Uferlose wachsen, berichtet Scheich Abdullah Abu Tarek. Eine Flasche Flüssiggas zum Kochen kostet 40.000 irakische Dinar (etwa 27 Euro), das Neunfache des eigentlichen Preises. Die Versorgung sei grundsätzlich schlecht. Es gebe keine Medikamente mehr. Waren müssten eingeschmuggelt werden. Es gäbe heftige Luftangriffe, Artillerie-Feuer. Auch nachts. Trotzdem hätten die Dschihadisten viel Unterstützung in der Bevölkerung. Viele Flüchtlinge seien inzwischen wieder zurückgekommen, weiß Abu Tarek. "Daesh" richte sich in der Stadt ein. Sie kümmern sich um die Müllentsorgung, das Wasser, den Strom. Die Angestellten werden von der Terrorbande bezahlt. Die Leute würden die Luftangriffe der irakischen Armee mehr fürchten als "Daesh", sagt der Scheich in Falludscha noch. Eine heftige Detonation beendet das Gespräch. Die Telefonleitung bricht zusammen.

Die Hoffnungen liegen jetzt auf dem neuen Premierminister, der Anfang September ins Amt kam. Er soll den tiefen Graben zwischen Schiiten und Sunniten, den Maliki mit seiner sektiererischen Politik verursacht hat, wieder zuzuschütten. Denn nur gemeinsam habe man eine Chance gegen diese Mörderbande, so der Scheich. Doch Haider al-Abadi hatte große Schwierigkeiten, seine Regierung der Einheit zu vervollständigen, in der alle Gruppen des Vielvölkerstaates Irak vertreten sind. Erst nach sechs Wochen konnte er dem Parlament zwei mehrheitsfähige Kandidaten für die derzeit wohl wichtigsten Posten des Verteidigungs- und Innenministeriums präsentieren. "Bis jetzt ist keine Bedingung von uns erfüllt worden", erklärt Scheich Matlb die Zurückhaltung der sunnitischen Stämme gegenüber der Regierung im Kampf gegen den IS. Eine davon ist, die ziellosen Luftangriffe auf Zivilisten in Falludscha zu stoppen. Dass dies nicht passiert, hat der Scheich soeben am Telefon erfahren.

Porträt von Haider al-Abadi (Foto: AFP/Getty Images)
Hoffnungsträger für viele: Haider al-Abadi ist seit September 2014 irakischer PremierministerBild: AFP/Getty Images