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Politik

Prüfstein für Serbiens Weg nach Europa

Sonja Biserko, Präsidentin Helsinki-Komitee für Menschenrechte Serbiens
Sonja Biserko
8. Juni 2021

Das Urteil "lebenslang" gegen Ratko Mladić in Den Haag wurde bestätigt. Aber zu einem Umdenken in Serbien über die eigene Verantwortung für die Jugoslawien-Kriege wird das dennoch nicht führen, meint Sonja Biserko.

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Auf eine Hauswand gesprühtes Porträt des bosnisch-serbischen General Ratko Mladic, militärisch grüßend in Uniform
Für viele Serben immer noch ein Held - Mladic-Porträt auf einer Hauswand in BelgradBild: Reuters/M.Djurica

Der serbische General und ehemalige Kommandant der Armee der selbsternannten Republika Srpska Ratko Mladić ist der Weltöffentlichkeit gut bekannt - nicht nur wegen der Verbrechen in Kroatien und Bosnien und Herzegowina während der Jugoslawienkriege zwischen 1991 und 1995, für die er 2017 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Sondern auch, weil er sich zuvor dank der Unterstützung demokratischer Regierungen Serbiens 16 Jahre lang verstecken und so seiner Verhaftung entziehen konnte.

Am Dienstag hat der Internationale Residualmechanismus für die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe (IRMTC) in Den Haag das vor vier Jahren gefällte Urteil gegen Mladić bestätigt: Die Richter der Nachfolgeinstitution des Internationale Strafgerichtshof der UN für das ehemalige Jugoslawien (UN ICTY) befanden den General erneut in zehn von elf Anklagepunkten für schuldig, darunter Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verstöße gegen Gesetze und Gebräuche in bewaffneten Konflikten. Das Urteil gegen Mladić lautet damit weiterhin: lebenslang.

Tatsachen nachgewiesen und öffentlich gemacht

Die Arbeit des "Haager Tribunal" genannten Gerichts ist äußerst wichtig für die Westbalkan-Region, weil es viele Tatsachen aus den Kriegen in Ex-Jugoslawien nachgewiesen und öffentlich gemacht hat. Ungeachtet dessen fehlen im konkreten Fall Mladićs Beweis für dessen Verbindungen in die serbische Hauptstadt Belgrad bzw. zum damaligen serbische Machthaber Slobodan Milošević und anderen Führungspersönlichkeiten. Deren Namen wurden allesamt in der Anklageschrift gegen Milošević 1999 aufgeführt. Das Urteil gegen Duško Tadić von 1997, der ersten Person, die in Den Haag angeklagt wurde, stellte fest, dass es sich beim Bosnienkrieg um einen internationalen Konflikt handelte.

Sonja Biserko, Präsidentin Helsinki-Komitee für Menschenrechte Serbiens
Sonja Biserko, Präsidentin des serbischen Helsinki-Komitees für Menschenrechte Bild: privat

Im Falle Ratko Mladićs dagegen hat es das Haager Tribunal vermieden, dessen Verbindungen nach Serbien zu bestätigen; auch der gut dokumentierte Völkermord in sechs anderen bosnischen Gemeinden gleich zu Beginn des Krieges 1992, für den die Anklage den General verantwortlich macht, wurde nicht in das Urteil einbezogen.

Die Legende vom "Befreiungskrieg der Serben"

In Serbien werden bis heute alle Entscheidungen des Haager Tribunals, die sich auf Serben beziehen, als antiserbisch eingestuft; 26 Jahre nach Ende der Kriege in Kroatien und Bosnien tauchen im serbischen Diskurs fast nur Urteile auf, die sich auf Kriegsverbrecher anderer Nationen beziehen. Die Tatsache, dass dem serbischen Staat selbst vom Gericht kein kriminelles Handeln vorgeworfen wird, führt dazu, dass weiterhin jede serbische Verantwortung für Kriege und Kriegsverbrechen bestritten wird.

Stattdessen wird behauptet, in Bosnien sei ein "Befreiungskrieg der Serben" geführt worden und der islamische Fundamentalismus sei für den Zerfall Jugoslawiens verantwortlich. Im Windschatten dieser Haltung entwickelte sich ein Narrativ, das Serben ausschließlich als Opfer darstellt, die - unter anderem wegen ihrer Nähe zu Russland - von der Welt stigmatisiert würden.

Die "grüne Transversale"

Tatsächlich war der Völkermord in Srebrenica 1995 Teil einer serbischen Strategie, die in dem ostbosnischen Städtchen und den beiden anderen "UN-Schutzzonen" Žepa und Goražde eine Art muslimischen Korridor sah, der angeblich Sarajevo und die Türkei über die hauptsächlich von Muslimen bewohnte serbische Region Sandžak sowie das ebenfalls mehrheitlich muslimische Kosovo und Albanien verbindet.

Infografik Karte Balkan "grüne Transversale" DE
Die schraffierte Gebiete bilden die angebliche "grüne Transversale"

Nach serbischer Interpretation stellt diese "grüne Transversale" eine Gefahr für ganz Europa dar. Deshalb war Srebrenica seit Kriegsbeginn 1992 Ziel Ratko Mladićs. Und diese Sicht der Dinge ist in Serbien bis heute noch aktuell.

Der Krieg in Bosnien stellte die Glaubwürdigkeit und die proklamierten Werte des Westens in Frage - und Srebrenica diskreditierte sogar die ganze Weltgemeinschaft. Moralisch gesehen war Srebrenica der Wendepunkt im Bosnienkrieg - aber gleichzeitig auch ein Symbol für die Gleichgültigkeit und Ignoranz westlicher Länder gegenüber dem Morden auf dem Balkan.

Deshalb führte Srebrenica überall auf der Welt zu ernsthaften Diskussionen - außer in Serbien. Die UN-Resolution von 2015 zur Anerkennung des Völkermords in Srebrenica war ein Versuch, eine gemeinsame historische Erzählung zu etablieren und einen internationalen Gedenktag für die rund 8000 Opfer des Massakers zu etablieren. Viele Länder haben sich dem mittlerweile angeschlossen - und einige nicht, allen voran Russland und China.

Kein Eingestehen der eigenen Schuld

Während Bosnien nach wie vor beharrlich für einen funktionierenden und pluralistischen Staat kämpft, werden in Belgrad alle in Den Haag angeklagten Kriminellen rehabilitiert; sie werden als Nationalhelden behandelt, die sich für die "serbische Sache" geopfert hätten.

Daher wird auch das Urteil im Berufungsverfahren gegen Mladić, den grausamsten aller serbischen Kriegsverbrecher, in Serbien keine besondere Wirkung zeigen. Die serbische Deutung des Zerfalls Jugoslawiens führte unweigerlich zu einem Verantwortungsbegriff, der ein Eingestehen der eigenen Schuld unmöglich macht. Eine radikale Transformation der serbischen Gesellschaft wird erst dann möglich werden, wenn sich die serbischen Eliten der Wahrheit stellen und folgende Fragen beantworten:

Entscheidende Fragen

Sind sie bereit zuzugeben, dass Institutionen wie der jugoslawischen Armee und der Sicherheitsdienste Serbiens Vollstrecker der Großserbien-Politik Miloševićs waren?

Dass es Deportationen und Massaker gegen namentlich bekannte Zivilistinnen und Zivilisten aufgrund von deren kultureller oder religiöser Zugehörigkeit gegeben hat?

Dass es Beweise für die Verlegung der Leichen der Opfer in sogenannte sekundäre und tertiäre Massengräber und für die Verstümmelung und manchmal gar Verbrennung der Toten gibt?

Dass kulturelles und religiöses Erbe absichtlich zerstört wurde, um die Identität nicht-serbischer ethnischer und religiöser Gemeinschaften zu vernichten?

Dass der fehlende Wille der politischen und kulturellen Eliten Serbiens zum verantwortungsvollen Umgang mit der serbischen Vergangenheit ein erhebliches Hindernis für die EU-Perspektive Serbiens ist?

Dass die anhaltende Relativierung der serbischen Verantwortung für die Jugoslawien-Kriege einer Normalisierung der Beziehungen zwischen den Ländern und Menschen auf dem Westbalkan im Wege steht?

Dass diese Relativierung auch dazu führt, dass sich die serbische Gesellschaft immer mehr in einem autistischen und rückwärtsgewandten Wertesystem einigelt?

Dass der Grundsatz der Strafbarkeit bestimmte Handlungen eines der Schlüsselelemente für die Schaffung eines Rechtsstaates in Serbien ist?

Ohne Konfrontation mit Ratko Mladić und seinen Verbrechen kann Serbien keine moderne, europäische Gesellschaft werden.

 

Sonja Biserko zählt zu den bekanntesten Menschenrechtsaktivistinnen Serbiens. Seit 1994 ist sie Präsidentin des serbischen Helsinki-Komitees für Menschenrechte.

In einer früheren Version des Artikels wurde Ratko Mladić als ehemaliger "serbischer General" bezeichnet. Tatsächlich war er General und Oberbefehlshaber der Streitkräfte in der selbst ernannten bosnischen "Republika Srpska". Der Artikel wurde entsprechend ergänzt.