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Flamenco gegen die Krise

Ashifa Kassam / MGr9. Dezember 2013

Die Wirtschaftskrise dauert an, der Staat spart, wo er kann, und Jobs gibt es kaum. Junge Spanier gehen auf sehr originelle Weise mit ihrem Frust um - und treffen damit einen Nerv in der Gesellschaft.

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Flamenco flashmob in Spanien (Foto: Flo6x8)
Bild: Flo6x8

An diesem Morgen ist die Warteschlange in der Bank lang. Sehr lang. Seufzend fächelt sich eine ältere Dame mit einer Broschüre über Sparkonten Luft zu. Weiter hinten diskutieren Mutter und Tochter darüber, wo sie Mittag essen wollen. Und ganz hinten am Ende der Schlange - fängt der stämmige Mann plötzlich an zu singen.

"Um zu überleben, musste ich meinen Papagei verpfänden", klagt er singend auf Spanisch. "Selbst mein Haus musste ich verkaufen." Eine Frau, ganz in Schwarz gekleidet und mit übergroßer Sonnenbrille, klatscht dazu. Geschmeidig gleitet sie ein Stück von der Schlange weg - und bewegt sich Sekunden später Flamenco tanzend durch den Raum, perfekt abgestimmt auf den Gesang. Schnell füllt sich das Bank-Foyer mit weiteren Tänzern. Absätze klackern auf dem Marmorboden, die Stimmung steigt.

Flamenco flashmob in Spanien (Foto: Flo6x8)
Sängerinnen begleiten die Flamenco-Tänzer in der BankBild: Flo6x8

Herzlich willkommen in der Welt der Spanier und ihres Umgangs mit dem Wirtschaftskrisen-Frust. Bühne frei für den Flamenco-Flashmob.

Protest im Turbogang

Für genau vier Minuten bringt die Gruppe das Geschäft in der Bank zum Erliegen. Kunden, die erst verwirrt dreinschauten, fangen an zu lächeln. Andere klatschen, rufen "Bravo". Doch dann bereitet der Leiter der Filiale dem Spektakel ein Ende: Höflich bittet er die Gruppe, das Gebäude zu verlassen, während er seinen Angestellten signalisiert, sie sollten die Polizei rufen.

Banken in ganz Spanien haben inzwischen diese scheinbar spontanen Auftritte erlebt. Entstanden ist die Idee dafür in einem antikapitalistischen Kollektiv namens Flo6x8 - eine Anspielung auf einen bekannten Flamenco-Rhytmus. An diesem Morgen tritt das Kollektiv in drei Banken auf. Jeder Abgang ist dabei genau geplant, um Begegnungen mit der Polizei zu vermeiden.

Spanien Madrid Bankenviertel Demonstration
Spanische Banken sind immer wieder Ziel von Protesten

"Flamenco kann so energisch sein, so aggressiv", sagt Tänzerin La Nina Ninja. Ihr Pseudonym ist eine Anspielung auf den Spitznamen für Hypotheken-Kredite. Normalerweise unterrichtet sie die Kunst des Flamenco-Tanzens in einem Studio im Stadtzentrum von Madrid. Aber ab und zu bricht sie aus und tanzt mit bei den Flamenco-Protesten. "Es drückt genau aus, wie wir uns in dieser Krise fühlen. Man kann es nutzen, um Verzweiflung, Wut oder Schmerz auszudrücken - und den Wunsch, die Dinge zu verändern", sagt sie.

Wer mitmacht, braucht ein Pseudonym, denn die Aktionen der Gruppe bewegen sich immer am Rande der Illegalität. Zwar ist es nicht verboten, in einer Bank zu tanzen und zu singen. Aber die Künstler riskieren, wegen Hausfriedensbruchs angeklagt zu werden. Und die Gruppe könnte auch vor Gericht landen, weil sie unbedingt alle ihre Auftritte filmen und fotografieren will.

115 Zwangsräumungen pro Tag

Die Idee zu den Flamenco-Flashmobs in Banken hatten La Nina Ninja und ihre Freunde, als ihnen etwas auffiel: Alle ihre Gespräche drehten sich nur noch um zwei Themen - die Wirtschaftskrise und ihre Liebe zum Flamenco. "Wir wollten deshalb Flamenco als gemeinsame Sprache nutzen, um denjenigen entgegenzutreten, die für die Krise verantwortlich sind." Es sei einfacher, die Frustration im Tanz auszudrücken, sagt La Nina Ninja, als es in Worte zu fassen. "Flamenco ist meine Art, mich auszudrücken. Wenn ich etwas wichtiges zu sagen habe, dann tanze ich es lieber, als es auszusprechen."

Flamenco flashmob in Spanien (Foto: Flo6x8)
La Nina Ninja, ganz in schwarz in erster Reihe, führt die Tänzer anBild: Flo6x8

Die Auftritte der Gruppe sind zum großen Hit geworden im krisengeplagten Spanien. Auf Youtube erhalten ihre Videos mehr als eine Million Klicks. Nationale und internationale Medien haben über sie berichtet. In Spanien sei der Ärger über die Banken geradezu greifbar, meint La Nina Ninja. Viele werfen ihnen unverantwortliche Darlehensgeschäfte vor und dass sie die Immobilienblase weiter gefüllt hätten. 2008 zerplatzte diese - und mit ihr die spanische Wirtschaft. Jeder vierte Spanier ist arbeitslos - und trotzdem sind die Banken nicht nachlässig gegenüber denjenigen, die bei der Rückzahlung ihrer Hypotheken hinterher hinken. Stattdessen veranlassten die Banken in Spanien im vergangenen Jahr durchschnittlich 115 Zwangsräumungen pro Tag.

Körper gegen Kapitalismus

Flamenco sei da genau der angemessene Weg, um die Geschichten hinter diesen Statistiken zu erzählen, sagt Flo6x8-Mitglied Titi Mon Parne: "International gilt Flamenco als traditionelle spanische Musik. Aber tatsächlich ging es immer mehr darum, denjenigen eine Stimme zu geben, die am Rande der spanischen Gesellschaft stehen."

Symbolbild Sinti Roma Folklore
Der Flamenco hat seine Wurzeln in der Musik der oft diskriminierten Volksgruppe der RomaBild: Fotolia/illustrez-vous

In der bewegten spanischen Geschichte - vom Bürgerkrieg bis zu den fast 40 Jahren Diktatur unter dem Franco-Regime - wurde Flamenco stets von sozialen Bewegungen genutzt, um sich bemerkbar zu machen und für die normalen Leute zu kämpfen. Flamenco, sagt Titi Mon Parne, sei eine Kunst für "den Rest von uns". Ein Werkzeug des Widerstandes gegen die dominierende Klasse. "Wir kämpfen mit unseren Körpern gegen den Kapitalismus", sagt er. "Der Körper ist ein Element, das wir alle besitzen. Er macht uns menschlich. Aber Kapitalismus ist das genaue Gegenteil: Es ist eine tryrannische Einrichtung, so weit weg von allem, was uns menschlich macht."

Die Armut macht verrückt

Das ultimative Ziel der Flashmobs ist laut den Flo6x8-Mitgliedern, die Spanier zu ermutigen, ihre Stimme gegen die Krise einzusetzen - in welcher Form auch immer sie wollen. "Ehrlich gesagt, sehen wir doch heute Sachen, die genausogut im Spanien vor 200 Jahre passiert sein könnten", meint Titi Mon Parne. "Leute durchstöbern Mülltonnen auf der Suche nach Essen oder anderen Dingen, die sie gebrauchen könnten. Das Ausmaß der Armut macht einen doch verrückt."

Manche sagen, dass es in Spanien langsam wieder aufwärts geht - die Zahl der Arbeitslosen ist im Herbst erstmals wieder gesunken. Titi Mon Parne schüttelt den Kopf. Die Situation werde nur schlimmer, erfordere mehr Handeln. "Schon morgen könnte ganz Spanien sich erheben und eine Revolution beginnen", sagt er und hält kurz inne. "Man weiß es nie."