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Einblicke in die Welt der Anne Frank

Heike Mund1. März 2015

Das "Tagebuch der Anne Frank" ist ergreifende Weltliteratur. Schüler, die das Berliner Anne Frank Zentrum besuchen, tauchen in ihr Leben ein und werden still. Sie fragen sich: "Warum hasste Hitler die Juden?"

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Anne Frank
Bild: picture-alliance

Berlin-Mitte. Die berühmten Hackeschen Höfe, ein perfekt restauriertes Jugendstilambiente, zieht mit seinen exklusiven Läden und dezent ausgeleuchteten Lokalitäten jeden Tag Massen von Schaulustigen an. Ein paar Schritte weiter, die Rosenthaler Strasse hoch Richtung Szeneviertel Prenzlauer Berg, lässt ein unscheinbares Schild neben einer Toreinfahrt vorbeieilende Touristen kurz innehalten. Kaum jemand betritt den grauen Hinterhof. Die meisten betrachten lieber von weitem das eher studentische Biotop: graffittibesprayte Häuserwände, Dutzende von Fahrrädern, junge Leute mit den verschiedensten internationalen Sprachakzenten drängen sich im Hof.

Berliner Zentrum will kein Museum sein

Die Schulklasse, die für heute hier angemeldet ist, kommt aus dem Mühlenbecker Land vor den Toren Berlins, keine Großstadtkinder. Frau Herold, die Lehrerin, versucht die Aufmerksamkeit ihrer Schülertruppe zu erreichen. Die sind noch kichernd und tuschelnd mit sich und ihren Handys beschäftigt.

Deutschland Anne-Frank-Zentrum in Berlin
Die 8.Klasse der Käthe-Kollwitz-Gesamtschule in Mühlbeck vor dem Anne-Frank-Zentrum in Berlin-MitteBild: DW/H. Mund

Eine abgewetzte, knarzende Treppe führt in den zweiten Stock des Hinterhauses. Oben öffnet sich ein lichtdurchfluteter Ausstellungsraum. Viele Fotos an den Wänden, wenig Vitrinen. Gleich vorne die Ikone: das Tagebuch der Anne Frank, in einer originalgetreuen Reproduktion mit dem rotkarierten Stoffeinband und dem kleinen goldfarbenen Schloss. Anne hatte es zu ihrem 13. Geburtstag geschenkt bekommen.

Das Anne Frank Zentrum in Berlin will kein Museum sein, erzählt mir Emre (26), einer der Guides, die hier ehrenamtlich arbeiten. Insgesamt sind 20 junge Leute, meist Studenten, für die Begleitung der Schulklassen zuständig. Die meisten der jungen Besucher sind in der 7. bis 9. Klasse und in der Oberstufe, meist Leistungskurs Geschichte oder Deutsch. Aber auch Grundschulkinder schauen sich das im Rahmen ihres Sachunterrichts an. Jedes Jahr kommen immerhin über 30.000 Besucher, viele davon aus dem Ausland.

Exkursion in die private Familiengeschichte

"Gibt es Begriffe, die euch spontan einfallen zu Anne Frank?" fragt Emre in die Runde. "Das kann zur Person sein. Oder zu der Zeit, in der sie gelebt hat." Alle kritzeln eifrig Wörter auf Karteikarten.

Deutschland Anne-Frank-Zentrum in Berlin
Als ehrenamtlicher Guide begleitet Emre (26) die Schulklassen durch die ständige Ausstellung im Anne Frank ZentrumBild: DW/H. Mund

Emre erfasst mit geduldigem Blick, wie der Unruhefaktor allmählich sinkt. Die einfachsten Dinge müssen noch geklärt werden. "Eigentlich haben alle vier Gruppen ähnliche Sachen aufgeschrieben. Tagebuch, kam in drei von 4 Gruppen. Dass sie jüdisch war, kam in zwei Gruppen. Und dass sie sich verstecken musste. Die anderen zwei Gruppen haben gesagt, dass sie verfolgt wurde. Das heißt, da fallen einem immer wieder die gleichen Sachen ein."

Wissensfragen statt Geschichtsnachilfe

Die zweite Runde: "Habt ihr Fragen, die ihr schon immer mal wissen wolltet?" Die Antworten kommen postwendend. "Warum hasste Hitler die Juden?", liest einer der Jungs seine Karte vor. "Wie wäre das nach dem KZ weitergegangen, wenn Anne überlebt hätte?", fragt ein Mädchen mit langen blonden Haaren. Emre fängt die Fragen gut auf. Und führt die Schülergruppe unmerklich weiter in die Geschichte. "Was glaubt ihr: Gibt es noch weitere Tagebücher von anderen Jugendlichen?" Alle blicken erstaunt, als er aufzählt, wieviele Jugendliche damals in der Nazizeit Tagebuch geschrieben habe. "Anne war nicht die einzige. Und warum ist gerade ihr Tagebuch so berühmt geworden?" Keiner weiß eine Antwort. Aber es beschäftigt alle.

Deutschland Anne-Frank-Zentrum in Berlin
Drei Schüler der Käthe-Kollwitz-Gesamtschule in der Ausstellung "Anne Frank - ein Mädchen aus Deutschland"Bild: DW/H. Mund

Der Stuhlkreis aus den roten Filzhockern löst sich auf, die Klasse verteilt sich mit kleineren Aufgaben in dem langgestreckten Raum, der wie ein Zeitstrahl von 1933 bis 1945 aufgebaut ist: links die persönliche Familiengeschichte, der Alltag in Frankfurt, die Flucht nach Holland. Rechts die politische Parallelwelt: historische Ereignisse von den ersten Judenverfolgungen in Nazideutschland bis hin zu den Schrecken der Konzentrationslager.

Eintauchen in Anne Franks Leben

Die Schüler vertiefen sich angeregt diskutierend in der Bilderwelt, dazwischen einzelne Seiten aus dem Tagebuch: Anne im Sandkasten 1937, Anne am Strand mit ihrer größeren Schwester Margot, Annes Schulklasse in der Montessorischule. Weiter hinten Bilder von der Enge ihres Verstecks im Amsterdamer Hinterhaus. "Es beklemmt mich doch mehr, als ich sagen kann, dass wir niemals hinaus dürfen, und ich habe große Angst, dass wir entdeckt und dann erschossen werden", ist in einem Eintrag vom 28. September 1942 an der Wand zu lesen.

Deutschland Anne-Frank-Zentrum in Berlin
Anne Frank im Sandkasten mit ihren FreundinnenBild: Anne-Frank-Fond, Basel

Das Konzept dieser Ausstellung zieht sofort, die Schüler lassen ihre Augen nicht von den Fotowänden, keiner albert mehr rum. Das Amsterdamer Anne-Frank-Haus, die Partnerorganisation des Berliner Zentrums, hat diesen Zeitstrahl entwickelt, als Wissensschatzkiste, nicht als museale Aufbereitung von Geschichte. Inzwischen gibt es weltweit Anne-Frank-Center, auch in London, Basel und New York. Annes Lebensgeschichte (1929 -1945) findet überall ihr Publikum, quer durch alle Altersklassen, egal in welcher Sprache.

Symbol für die Judenverfolgung

"Ich werde, hoffe ich, dir alles anvertrauen können, wie ich es noch bei niemandem gekonnt habe", ist in ihrem Tagebuch unter dem Datum 12. Juni 1942 zu lesen. Zeilen, die zwischen Mut machen und Verzweiflung schwanken, geheimste Wünsche und Gedanken aufbewahrt haben und bis heute anrühren. Das Tagebuch hat überlebt, Anne selbst nicht. Das junge Mädchen starb kurz nach ihrer älteren Schwester im Konzentrationslager Bergen-Belsen an Typhus - zwei Wochen vor der Befreiung durch die Alliierten, erfahren die Schüler.

"Ihr müsst Euch vorstellen, sie konnte nicht duschen, hatte keine Schuhe. Es gab im Lager nichts zu essen als steinhartes Brot und dünne Wassersuppe." Stille, alle schauen einen Moment betroffen zu Emre, der mit klaren Bildern versucht, ihnen die brutale Lebenswirklichkeit der jüdischen Kindern damals vor Augen zu führen. "So wollte sie ganz bestimmt nicht sterben", sagt leise eines der Mädchen zu ihrer Freundin.

Deutschland Anne-Frank-Zentrum in Berlin
Ein Nachbau von Annes Zimmer, in dem sie zwei jahre lang versteckt gelebt und ihr Tagebuch geschrieben hatBild: DW/H. Mund

Auf dem Weg zum Ausgang wird der Blick von einer Pinnwand mit kleinen quadratischen Zetteln festgehalten. "All the respect for you, Anne", ist auf einem zu lesen. "Stop Wars. Anne Frank lives. We'll never forget her", schreibt Miguel aus Panama. "It's always easier to love than to hate", ein Mädchen aus Polen. Alles angekommen, was hier in Berlin vermittelt wird. Anne Frank, ein junger Mensch, der anderen bis heute Mut macht. "Wir leben alle mit dem Ziel, glücklich zu werden, wir leben alle verschieden und doch gleich", schrieb sie am 6. Juli 1944 in ihr kleines, rotkariertes Tagebuch. Zum Glück ist es der Nachwelt erhalten geblieben.