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Die neuen Sorgen

Grahame Lucas (mgr)24. April 2014

Vor einem Jahr stürzte das Rana Plaza in Bangladesch zusammen. Mehr als 1.000 Menschen starben. Zwar haben sich seitdem die Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie leicht verbessert, doch das Grundproblem bleibt.

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Eingestürztes Rana Plaza in Bangladesh (Foto: REUTERS/Andrew Biraj)
Bild: Reuters

Als die ersten Risse die Wände des Gebäudes durchzogen, bekamen die Arbeiterinnen im Fabrikkomplex Rana Plaza Angst. Sie wandten sich an das Management und verließen anschließend hastig das Gebäude. Doch die Aufseher, die die Wände flüchtig kontrollierten, verwarfen sämtliche Sorgen. Mehr noch: Sie drohten mit Lohnkürzungen, falls die Arbeiterinnen am nächsten Tag nicht zur Arbeit erscheinen würden. Natürlich kehrten die Textilarbeiterinnen ordnungsgemäß am nächsten Tag zurück, pünktlich zum Beginn der 8-Uhr-Schicht. Denn ihr Lohn ist ohnehin einer der niedrigsten der Welt. Was sie nicht wussten: Beim Bau des Rana Plaza war die Bauordnung missachtet worden. Der Besitzer hatte illegal mehrere Stockwerke hinzufügen lassen - entgegen der ursprünglichen Pläne.

Shila Begum arbeitete bei Ether Tex, einer der fünf Fabriken im Gebäude. Sie war eine der 5000 Arbeiterinnen, die an diesem verhängnisvollen Morgen zur Arbeit kamen. Als sie an ihrem Arbeitsplatz im fünften Stock ankam, fiel der Strom aus - Alltag im Leben in der Hauptstadt Dhaka. Damit die Arbeiterinnen trotzdem weitermachen können, haben die Fabriken üblicherweise Generatoren auf dem Dach angebracht. "Der Generator lief an", erzählt Shila Begum. "Dann fühlte ich, wie das ganze Gebäude bebte. Als nächstes krachte die Decke herunter. Meine rechte Hand wurde zwischen Trümmern eingeklemmt, ein Betonträger fiel auf meinen Bauch. Eine meiner Kolleginnen starb direkt vor meinen Augen." Nach 16 Stunden fanden Rettungskräfte die Mutter einer neunjährigen Tochter und trugen sie aus dem Gebäude. Shila Begum hatte Glück in diesem riesengroßen Unglück.

Beweise für Gier und Ignoranz

Der Zusammenbruch des Fabrikgebäudes Rana Plaza war eine der schlimmsten Katastrophen in der Geschichte Bangladeschs. Jetzt, ein Jahr später, haben die polizeilichen Ermittlungen ergeben: Der Bau des Gebäudes wurde von Ingenieuren und Offiziellen genehmigt, die sich nicht einmal die Mühe gemacht hatten, die Baustelle zu besichtigen, um zu prüfen, ob die Baupläne eingehalten wurden. Der leitende Ermittler Bijoy Krishna Kar sprach von "stichhaltigen Beweisen" für "gieriges und unverantwortliches" Verhalten der Gebäude- und Fabrikbesitzer. Am 15. April 2014 gab die Polizei bekannt, dass der Besitzer des Rana Plaza - der nach dem Zusammensturz versucht hatte, nach Indien zu fliehen - wegen Mordes angeklagt würde. Insgesamt 40 Personen werden sich vor Gericht verantworten müssen für ihre Rolle in der Tragödie - darunter auch die Besitzer der Fabriken im Gebäude.

Die Sicherheitsbilanz der Textilindustrie ist entsetzlich: Erst sechs Monate vor dem Rana-Plaza-Einsturz brannte die Tazreen Fashion Fabrik - um nur ein Beispiel zu nennen. Mehr als 100 Menschen starben. Zugleich ist die Industrie sehr wichtig für Bangladesch: Rund vier Millionen Menschen arbeiten hier in 4500 Fabriken - nur China beschäftigt mehr Textilarbeiter. In der bengalischen Wirtschaft ist es der größte Exportsektor. Die meisten Produkte gehen an Bekleidungsketten in den USA und Europa.

Jetzt neu: Kompetente Kontrolleure

International wie auch im Land selbst haben Aktivisten für Arbeitnehmerreche nach dem Unglück für bessere Arbeitsbedingungen und Löhne in der Textilindustrie gekämpft. Mit Erfolg. Ein Jahr nach der Tragödie spricht Sirajul Islam Rony, der Gewerkschaftsführer der Fabrikarbeiter, von grundlegenden Verbesserungen: "Das Arbeitsumfeld in den Fabriken hat sich sichtlich verbessert nach den Vorfällen von Tazreen Fashion und Rana Plaza. Nach diesen zwei Unglücken hat die Regierung die Lage untersucht; kompetente Inspektoren wurden eingesetzt, um die Sicherheitsvorkehrungen in den Fabriken zu kontrollieren."

Auch die Textilarbeiter selbst glauben, dass sich ihre Lage verbessert hat: "Früher gab es keinerlei Schutz. Wir wussten nicht einmal, was wir im Notfall wie machen sollen. Alle Jubeljahre mal gab es eine Art 'Feuertraining'. Jetzt gibt es das jeden Monat. Wir lernen dabei, was wir tun sollen, wenn ein Feuer ausbricht, wie wir dann sicher aus der Fabrik kommen und so weiter", sagt Bilkis Begum, die in der Versatile-Garments-Fabrik arbeitet.

Misstrauen gegen "Made in Bangladesh"

Der Druck aus dem Ausland hat außerdem dazu geführt, dass der Mindestlohn um 79 Prozent auf umgerechnet 49 Euro im Monat angestiegen ist. Doch die Folgen sind nicht nur positiv: Denn mit den höheren Löhnen sind auch die Kosten gestiegen. Das Endprodukt ist teurer. Und durch die negativen Schlagzeilen rund um die Unglücke sind westliche Käufer zurückhaltender, wenn es um Produkte "Made in Bangladesh" geht.

Käufer an der Kasse bei Primark (Foto: Sean Gallup/Getty Image)
"Made in Bangladesh" kauft man im Westen nicht mehr gern - billig soll es trotzdem seinBild: Getty Images

Die Auswirkungen spüren Arbeiterinnen wie Bilkis Begum sofort: "Im Moment ist das größte Problem die Zahl der Käufer. Es sind inzwischen weniger. Das bedeutet ausnahmslos: Es gibt weniger Arbeit, weniger Überstunden und natürlich letztlich auch weniger Einnahmen." Die Besitzer der Fabriken sagen, sie müssten die Produktivität steigern, um die schrumpfende Verdienstspanne auszugleichen.

Westliche Firmen vergeben unterdessen ihre Aufträge nach Vietnam, Indonesien und Kambodscha. Und erst 29 der Unternehmen, die seinerzeit Textilien aus dem Rana-Plaza-Komplex kauften, haben in den internationalen Entschädigungsfond eingezahlt, den die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) aufgesetzt hat für die Familien der 1.136 Toten und 2.500 Schwerverletzten. Bislang hat der Fond erst zehn der ursprünglich geplanten 28 Millionen Euro eingenommen.

Selbstmord als letzter Ausweg?

Diese Entschädigung reiche angesichts der schrecklichen Verletzungen kaum, sagt Shila Begum, die Überlebende. "Ich kann meinen Arm nicht mal mehr benutzen, um zu essen oder Aufgaben im Haushalt zu erledigen", sagt sie. "Meine Tochter Nipa Moni ist die beste in ihrer Klasse. Aber sie wird künftig vermutlich nicht mehr in die Schule gehen können, denn ich kann die Gebühren nicht mehr bezahlen." Umgerechnet rund 420 Euro habe sie von Firmen wie der Modekette Primark erhalten. Hinzu kämen Spenden von Privatleuten - insgesamt rund 653 Euro.

Aber auch das helfe nicht, wenn sie nicht mehr arbeiten könne. "Vor zwei Monaten hat eine Textilarbeiterin namens Salma sich umgebracht, um diesem Schicksal zu entgehen. Was erwarten denn die 29 ausländischen Käufer, die die Produkte aus den Rana Plaza-Fabriken gekauft haben? Wollen sie auch, dass ich mich töte so wie Salma? Werden sie uns nicht mal ein bißchen Mitleid zeigen?"