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Die kleinen Erwachsenen

Wolfgang Dick12. August 2012

Die Jugendlichen von heute werden die Zukunft entscheidend prägen und gestalten. Forscher untersuchen daher regelmäßig die Einstellungen junger Menschen. Dabei stoßen sie immer wieder auf Überraschungen.

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Facebook-Fans stehen vor dem Haus einer 15-jährigen und wollen feiern. Foto: Angelika Warmuth, dpa
In Feierlaune - Jugendliche in HamburgBild: picture alliance/Jazzarchiv

14- bis 17-Jährige in Deutschland sind keine Rebellen. Sie achten ihre Eltern, eifern ihnen aber nicht nach, sondern orientieren sich verstärkt an den Handlungen ihrer Freunde. Traditionelle Werte wie Treue und Pflichtbewusstsein zählen. Liebe, Freundschaft und Familie sind Jugendlichen wichtiger als Religion und Glaube. Fernsehen ist sehr beliebt. Aber in der Freizeit wird das Zusammensein mit Freunden, Schwimmen oder Radfahren eindeutig dem spielen am Computer oder Videospielen vorgezogen. "Freunde sind die Familie, die man sich aussuchen kann und die immer zu einem halten", schwärmen Maike (15) und Jonas (16), zwei der Jugendlichen, die von Soziologen befragt wurden.

Einer der Sozialforscher ist Marc Calmbach vom Sinus-Institut in Heidelberg. Im Auftrag von sechs kirchlichen und gesellschaftspolitischen Institutionen untersuchten er und seine Kollegen in ausführlichen Interviews die Gefühls- und Gedankenwelt Jugendlicher. Die wichtigsten Feststellungen wurden im Frühjahr 2012 in der so genannten "Sinus-Studie" veröffentlicht. "Die Jugend richtet sich in unsicheren Zeiten tatsächlich nach klassischen Werten", bestätigt Marc Calmbach. Dabei würden Werte und Ziele aber stark gemischt. "Man will viel feiern und das Leben genießen, aber auch einen guten Job. Man will Freiheit aber auch Sicherheit. Man ist angepasst, will sich aber auch selbst verwirklichen".

Berufliche Unsicherheit führt zum frühen Ende der Jugend

Ein junges Paar küsst sich (Foto: DW)
Liebe, Familie und Freunde sind Jugendlichen besonders wichtigBild: Fotolia/Henry Schmitt

Jugendliche in Deutschland stehen aber auch verstärkt unter sozialem Druck. Sie haben Ängste und Sorgen. Die betreffen noch weit vor den Themen "Umwelt", "Geld" oder "Politik" vor allem den Bereich "Arbeitsplatz". Beschäftigungsverhältnisse sind unsicherer als in der Vergangenheit. Selbst beste Zeugnisse und viele Praktika garantieren heute nicht unbedingt einen festen Job. Diese Entwicklung hat Folgen. 14- bis 17-Jährige verlieren eher als frühere Generationen ihre jugendliche Unbeschwertheit. "Mich hat überrascht, dass viele sich schon wie kleine Erwachsene verhalten", berichtet Sozialforscher Marc Calmbach. Sein Kollege Peter Martin Thomas, Mitautor der Sinus-Jugendstudie, erzählt im DW-Interview von sehr rationalem, angepassten und überlegtem Handeln. Mädchen würden sich noch eher Gedanken über ihre berufliche Zukunft machen als Jungen, sagt Thomas. Für berufliche Weichenstellungen würden auch viele Freizeitaktivitäten eingeschränkt.

Trotz Wirtschaftskrise und düsteren Prognosen scheinen Jugendliche aber überwiegend zuversichtlich gestimmt zu sein. Rund 60 Prozent blicken optimistisch nach vorne. "Theoretisch bin ich schon zufrieden, aber es fehlt manchmal die Motivation", erzählt die 16-jährige Kerstin. Sie ist eine von 2500 Jugendlichen, die von Sozialwissenschaftlern der Universität Bielefeld und Experten des Münchner Forschungsinstituts TNS Infratest befragt wurden. Der Auftraggeber, die Shell AG, lässt die hoch anerkannten Untersuchungen als "Shell-Jugendstudien" bereits seit Jahrzehnten in Abständen von vier Jahren anfertigen. Zuletzt im Jahr 2010. Studienleiter Professor Mathias Albert bestätigt den Optimismus der Jugendlichen: "Was die Jugendlichen sich aber unbedingt wünschen, ist Berechenbarkeit". Gesellschaftliche Regeln müssten beständig gelten. Deshalb würden auch die Erwartungen an die Schule steigen. Gewünscht werden engagierte Lehrer, die auch persönlich Vorbilder sind.

Soziale Unterschiede werden größer

Jugendliche Mitglieder einer Clique trinken Alkohol. (Foto: dpa)
Bei sozial Benachteiligten herrscht NiedergeschlagenheitBild: picture-alliance/dpa

Die bisherigen Aussagen zur Gefühls- und Gedankenwelt von Jugendlichen stammen überwiegend aus der Ober- und Mittelschicht. Diese Schichten stellen nicht nur bei den Befragten der Studien, sondern auch in der deutschen Gesellschaft zwei Drittel. Das übrige Drittel umfasst sozial schwächer gestellte bis hin zu schwer benachteiligten Bevölkerungskreisen. Bei den Jugendlichen dieser Schichten dominieren Hoffnungslosigkeit und Niedergeschlagenheit. Es mangelt an Ideen, Perspektiven und am Antrieb. Es gibt wesentlich weniger soziales Engagement, dafür aber einen stärkeren Hang zum Geld ausgeben und zu unrealistischen Zukunftsträumen.

Erschreckt sind die Forscher über die zunehmende Deutlichkeit, mit der sich Jugendliche der Ober- und Mittelschicht von sozial Schwächeren abgrenzen. Ganz klar wird gesagt, dass man mit "Leistungsunwilligen" oder "Ausländern" nichts zu tun haben möchte. Beide Jugendstudien, bei Sinus wie auch bei Shell, sprechen bereits von "Sozial Abgehängten". Dass sei ein eindeutiges Anzeichen für besorgniserregende gesellschaftliche Veränderungen, stellen die Sozialforscher fest.

Schon die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) kritisierte, dass in Deutschland hauptsächlich das Elternhaus über die Zukunft der Jugendlichen entscheidet. Sozialforscher Peter Martin Thomas vom Sinus-Institut empfiehlt daher die Förderung von mehr Toleranz und Verständnis. "Wir müssen mehr Miteinander und mehr Begegnung im Bildungssystem verankern". Wenn sich die Entwicklung auseinander driftender Schichten weiter verstärkt, seien der soziale Friede, aber auch die Demokratie gefährdet, folgern die meisten Sozialwissenschaftler aus ihren Studien.