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Das deutsche Verfassungsgericht soll besser geschützt werden

Ben Knight
1. März 2024

Die wachsende Unterstützung für die rechtspopulistische AfD in Deutschland alarmiert Politik und Juristen: Ist das Bundesverfassungsgericht ausreichend vor autoritären Bestrebungen geschützt? Reformen werden diskutiert.

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Frauen und Männer in roten Roben und mit roten Hüten stehen nebeneinander, eine Frau liest von einem Blatt ab
Wer die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts ernennt, kann damit politische Macht ausübenBild: Uli Deck/dpa/picture alliance

Der Aufstieg der rechtspopulistischen, in Teilen rechtsextremen Partei Alternative für Deutschland ist ein Weckruf. In landesweiten Umfragen geben inzwischen rund 20 Prozent der Befragten an, die AfD wählen zu wollen. Der Verfassungsschutz hält die Partei für eine mögliche Gefahr für die staatliche Ordnung.

Der Bundesrat, die zweite Kammer des Parlaments, in dem die 16 Bundesländer vertreten sind, hatte bereits Anfang Februar einen Reformvorschlag eingebracht, mit dem die jetzige Struktur des Verfassungsgerichts im Grundgesetz abgesichert werden soll. Bisher könnte das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht, das Zuständigkeiten und Verfahrensweisen regelt, mit einfacher Bundestagsmehrheit geändert werden.

Das Grundgesetz, die deutsche Verfassung, enthält drei Artikel, die bestimmen, wie die 16 Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts gewählt werden. Bisher wird die Hälfte von ihnen vom Bundestag ernannt, die andere Hälfte vom Bundesrat.

Buch mit dem Grundgesetz steht aufrecht vor leeren Richterstühlen und davor roten Richterhüten
Kritiker glauben, dass das Grundgesetz die Unabhängigkeit des Verfassungsgericht zu wenig schütztBild: Uli Deck/dpa/picture alliance

Nach dem Änderungsantrag gibt es entscheidende "Lücken" im Grundgesetz, die die Unabhängigkeit des Gerichts bedrohen: Es ist keine Zweidrittelmehrheit bei der Ernennung neuer Richter notwendig, es gibt keine Begrenzung der Amtszeit von Verfassungsrichtern und kein Verbot einer Wiederernennung.

All dies ist im Bundesverfassungsgerichtsgesetz geregelt, einem normalen Gesetz, das mit einfacher Mehrheit im Bundestag geändert werden könnte. Mit anderen Worten, eine autoritäre Regierung könnte zum Beispiel die Hürde der nötigen Zweidrittelmehrheit herabsetzen und regierungstreue Richter ernennen.

Ebenso will der Vorschlag des Bundesrats die Möglichkeit abschaffen, dass nur ein Drittel der Bundestagsabgeordneten die Ernennung neuer Richter und so das gesamte Verfassungsgericht blockieren können.

Negativbeispiel Polen

Ulrich Karpenstein, Vizepräsident des Deutschen Anwaltvereins und ein führender deutscher Verfassungsrechtler, hält eine Reform für unabdingbar: "Das Bundesverfassungsgericht ist weder geschützt gegen obstruktive Blockaden von parlamentarischen Minderheiten, insbesondere bei der Richterwahl, noch ist es geschützt gegen einfache Mehrheiten im Bundestag, also gegen das Szenario, das die PiS-Partei in Polen gemacht hat", sagt er der DW.

Schriftzug Trybunal Konstytucyjny mit Adler vor dem Eingang eines klassizistischen Gebäudes
Die frühere polnische PiS-Regierung hat ihren Einfluss auf das Verfassungsgericht deutlich ausgeweitetBild: Rafal Guz/PAP/dpa/picture-alliance

"Man könnte ein sogenanntes 'court-packing' durchführen. Das bedeutet, man ernennt zum Beispiel einfach zusätzliche Richter, zusätzliche Kammern mit eigenen Richtern. Es gibt Möglichkeiten, das zu verbessern, und es gibt auch eigentlich einen Konsens, dass ein Handlungsbedarf besteht."

Stefan Martini, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht der Universität Kiel, rät jedoch zur Vorsicht: "Ich würde damit sehr behutsam umgehen. Es kann schon sinnvoll sein, bestimmte Regeln über das Bundesverfassungsgericht ins Grundgesetz zu schreiben, aber ich würde das auf sehr grundlegende Regeln beschränken", sagt er der DW.

Die Amtszeit von Verfassungsrichtern zu beschränken und deren Wiederernennung zu verbieten hält Martini für sinnvoll. Doch er hat gemischte Gefühle bei dem Vorschlag, Zweidrittelmehrheiten für die Richterernennung vorzuschreiben. "Weil wenn man das tut, dann muss man eben auch darüber nachdenken, wie man Blockaden überwindet. Und da ist keine Lösung wirklich perfekt, ob ein anderes Bundesverfassungsorgan dann die Wahl übernimmt, ob es ein Richterwahlausschuss gibt, und das finde ich dann etwas undemokratischer, was Legimitation angeht."

Die Situation in Polen war bei vielen Verfassungsrechtlern in Deutschland Auslöser, über einen stärkeren Schutz des Bundesverfassungsgerichts nachzudenken. Die Krise, die in Polen Massenproteste auslöste, begann 2015, als der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) nach ihrer Regierungsübernahme 'court-packing' vorgeworfen wurde. Mit ihrer absoluten Mehrheit im Sejm änderte die nationalkonservative Partei das Gesetz zum Verfassungsgericht und ernannte fünf neue Richter.

Mann mit Mund-Nasen-Schutz hält ein Schild mit der Aufschrift "Europe don't give up!!!" vor sich, hinter ihm eine Europaflagge und eine polnische Flagge
Gegner der polnischen Justizreform hofften auf Einspruch des Europäischen GerichtshofsBild: Omar Marques/Getty Images

2019 schuf die PiS-Regierung außerdem eine neue Kammer des Verfassungsgerichtsx, die sogenannte Disziplinarkammer, und änderte das Gesetz erneut, so dass die Regierung den Präsidenten des Verfassungsgerichts ernennen und entlassen konnte. Der Europäische Gerichtshof urteilte 2019, dass die Reform europäischem Recht widerspreche und die Unabhängigkeit der Justiz untergrabe.

Worst-case-Szenarien

Ähnlich war es in Ungarn. Reformen der Fidesz-Partei 2013 wurden international kritisiert, sie schwächten die Gewaltenteilung zwischen Gesetzgebung und Justiz.

"Das Verfassungsgericht ist für die Demokratie und für den Rechtsstaat ein ganz zentrales Verfassungsorgan, um Grundrechte zu schützen, um Gewaltenteilung zu schützen, um freie Wahlen zu schützen", sagt Ulrich Karpenstein. "Stellen Sie sich vor, am Ende einer Legislaturperiode hätten wir ein Szenario wie (beim US-Präsidenten Donald) Trump oder (beim brasilianischen Präsidenten Jair) Bolsonaro — also Kanzler oder Präsidenten, die nicht abtreten wollen, die sagen, die Wahl sei gefälscht. In einem solchen Fall braucht man ein Gericht, die diese Vorwürfe prüft."

Reformen schwer rückgängig zu machen

Doch Stefan Martini warnt, es sei nicht unbedingt positiv, Gesetzesänderungen zu erschweren. "Wenn eine illiberale Regierung abgewählt wird und eine neue, progressivere Regierung bestimmte Dinge wieder ändern möchte, dann ist sie auch gegebenenfalls davon abhängig, dass man Regelungen mit einer einfachen Mehrheit wieder ändern kann. Und das wird schwieriger, wenn man bestimmte Dinge in die Verfassung schreibt."

Roter Richterhut auf dem Tisch
Wer hat den Richterhut auf? Eine Frage der GesetzeBild: Political-Moments/IMAGO

Die Reformvorschläge des Bundesrats fanden zunächst die Zustimmung der Parteien der linken und auch rechten Mitte wie der CDU/CSU. Doch so einfach scheint es nicht zu sein. Martin Plum (CDU) und Volker Ullrich (CSU) schrieben kürzlich in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", sie seien zwar offen für die Idee, das Bundesverfassungsgericht besser über das Grundgesetz abzusichern, sie wollten aber eine solche Reform mit einer Wahlrechtsreform verbinden. Das wäre eine völlig andere Baustelle und könnte eine Reform des Verfassungsgerichts erschweren.

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.