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Bundestag gedenkt Blockade Leningrads

Bernd Gräßler27. Januar 2014

Das Parlament hat an über eine Million Menschen erinnert, die bei der Blockade Leningrads durch die Wehrmacht starben. Gastredner war der russische Schriftsteller Daniil Granin.

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Daniil Granin spricht im Bundestag zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus
Bild: picture-alliance/dpa

Gestützt von Bundespräsident Joachim Gauck und Bundestagspräsident Norbert Lammert und begleitet von Kanzlerin Angela Merkel betritt der 95jährige Daniil Granin den Plenarsaal des Bundestages im Reichstagsgebäude. Der greise russische Schriftsteller ist Ehrengast der diesjährigen Gedenkstunde des Bundestags für die Opfer des Nationalsozialismus.

Er hat als Freiwilliger gekämpft, war Panzerkommandant der Roten Armee und hat die Blockade Leningrads im Zweiten Weltkrieg er- und überlebt. Nun soll er dem Bundestag über den verzweifelten Überlebenskampf in der von der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg fast 900 Tage lang blockierten Stadt berichten. In St. Petersburg, wie Leningrad inzwischen wieder heißt, legten die Leute heute auf die Gräber Zwieback und Gebäck in Gedenken an die Hunger-Blockade, beginnt Granin seine Schilderungen. Und er nimmt seinen Auftrag ernster, als es sich mancher der Zuhörer vielleicht gewünscht hat. "Ein dreijähriges Kind stirbt", sagt er mit brüchiger Stimme. Und schildert danach detailliert, wie in dieser Familie Kannibalismus das Überleben des anderen Kindes ermöglicht.

Rund eine Million Tote

Rund eine Million Menschen sind nach seriösen Schätzungen zwischen September 1941 und Januar 1944 in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, durch die erbarmungslose Blockade der deutschen Truppen umgekommen, die meisten durch Hunger und Krankheiten. "Die Deutschen warteten in aller Ruhe darauf, dass der Hunger die Stadt in die Knie zwingt", sagt Granin. "Wie kann das sein, Soldaten müssen doch gegen Soldaten kämpfen", fragt er in den Plenarsaal hinein. Aber in Leningrad sei der Hunger in die Stadt geschickt worden, um anstelle der Soldaten Krieg zu führen.

Er habe den Deutschen lange nicht verzeihen können. Mittlerweile sei die Erinnerung verblasst, aber "dieser Krieg war wie jeder Krieg ein Krieg aus Dreck und Blut". Es ist eine schonungslose Rede, an deren Ende Granin vor allem jene erwähnt, die in der belagerten Stadt bewiesen, dass man in größter Not Barmherzigkeit üben und Würde bewahren kann. Sie, die auf den Straßen einen vor Schwäche Gestolperten aufhalfen, statt vorbei zu hasten, seien die Helden gewesen.

Bundestagspräsident Lammert betont in seiner Rede, Leningrad sollte auf Befehl Hitlers als "Wiege des jüdischen Bolschewismus" - so der Nazi-Jargon - vernichtet werden. Zivilisten seien für vogelfrei erklärt worden. Es sei das große Verdienst Daniil Granins, dass er als Mitautor des "Blockadebuchs" den Bewohnern Leningrads jenseits der offiziellen sozialistischen Geschichtsschreibung eine Stimme gegeben habe. Das Buch, das Erinnerungen und Zeugenbefragungen zusammenfasst, konnte in den 70er und 80er Jahren in der Sowjetunion nur in zensierter Fassung erscheinen. Es fand auch zahlreiche deutsche Leser.

Scham über Vernichtungskrieg

Der designierte Russland-Beauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler, sagte der DW, Granin habe das Unfassbares des Geschehens noch einmal deutlich gemacht. Seine Botschaft, dass auch unter so grausamen und unmenschlichen Umständen die menschliche Würde siegen kann, mache Hoffnung.

Die 1996 eingeführte Gedenkstunde im Bundestag ist den Opfern des Nationalsozialismus gewidmet, Anlass ist der Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945. Zu den Zeitzeugen, die vor den Abgeordneten sprachen, gehörten unter anderen der Holocaust-Überlebende Eli Wiesel, der spanische Autor Jorge Semprún und der israelische Präsident Simon Perez. In diesem Jahr stellte der Bundestag die Blockade Leningrads in den Mittelpunkt des Gedenkens. Sie endete am 27. Januar 1944, genau ein Jahr vor der Befreiung von Auschwitz.

Bundespräsident Joachim Gauck schrieb aus diesem Anlaß an den russischen Präsidenten Wladimir Putin, er könne nur "mit tiefer Trauer und mit Scham an den Vernichtungskrieg Deutschlands gegen die Sowjetunion denken". Diese Erinnerung helfe, "jeden Schritt der deutsch-russischen Versöhnung besonders hoch einzuschätzen", betont der Bundespräsident.