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Brasilien: Deutsche Charmeoffensive für Pflegekräfte

5. Juni 2023

Auf Werbetour in Lateinamerika: Deutschland will Krankenschwestern und Pfleger nach Deutschland holen. Arbeitsminister Hubertus Heil und Außenministerin Baerbock sind deshalb jetzt nach Brasilien geflogen.

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Symbolbild Brasilien Krankenschwester & Patientin
Krankenschwester in Brasilien - Deutschland will möglichst viele von ihnen anwerbenBild: Lincon Zarbietti/dpa/picture alliance

Die Fragen kommen auf Facebook, auf Instagramund vor allem in der 300-köpfigen WhatsApp-Gruppe, die von Monat zu Monat größer wird. Wie ist es, in Deutschlandals Pflegekraft zu arbeiten? Was brauche ich, um den Sprung über den großen Teich zu wagen? Und vor allem: Wie gut muss mein Deutsch sein?

Thaiza María Silva Farías kann alle diese Fragen ihrer brasilianischen Landsleute schon im Schlaf beantworten, sie ist ja quasi die Pionierin. Die gelernte Krankenschwester aus Rio de Janeiro kam im Oktober 2016 nach Deutschland.

Kurze Zeit später begann sie, im Klinikum Darmstadt im Operationssaal zu arbeiten. Und weil sie jeden Tag den Pflegemangel in deutschen Krankenhäusern mit eigenen Augen sehen kann, fasste sie im vergangenen Jahr den Entschluss, ihre eigenen Erfahrungen zu nutzen und eine Vermittlungsagentur aufzubauen mit dem Ziel, Pflegekräfte von Brasilien nach Deutschland zu lotsen.

Thaiza Maria Silva Farías, eine brasilianische Krankenschwester in Deutschland
Die brasilianische Krankenschwester Thaiza Maria Silva Farías arbeitet in Deutschland und vermittelt Kollegen aus BrasilienBild: privat

Silva Farías kennt beide Seiten. "Ich kann sowohl brasilianischen Bewerberinnen und Bewerbern professionell helfen. Andererseits weiß ich genau, wer in Deutschland in den Kliniken gebraucht wird", erklärt sie im Gespräch mit der DW.

Immer mehr Pflegebedürftige in Deutschland

"Nursewelt" heißt die Agentur, die durchaus Potenzial hat, eine Erfolgsstory zu werden. Denn Silva Farías stößt mit ihrem Unternehmen in eine Marktlücke, die von Jahr zu Jahr größer wird.

Laut Statistischem Bundesamt gab es im Dezember 1999 knapp über zwei Millionen Pflegebedürftige hierzulande, mittlerweile sind es fünf Millionen Menschen. Bis 2055 rechnen Experten mit einem Anstieg auf 6,8 Millionen.

Gleichzeitig wird die Zahl derjenigen, die sich um diese Menschen kümmern sollen, immer kleiner: Im vergangenen Jahr begannen gerade einmal 52.300 Personen in Deutschland eine Ausbildung zur Pflegefachfrau oder zum Pflegefachmann. Dies sind 4000 Auszubildende oder sieben Prozent weniger als 2021, so die alarmierenden Zahlen des Statistischen Bundesamtes.

"Du kannst Dir die Arbeit aussuchen"

Deutschlands Situation in der Pflege heißt heute: Auf eine arbeitslose Pflegefachkraft kommen drei freie Stellen. Oder wie es die Bundesagentur für Arbeit ausdrückt: ein "deutlicher Fachkräfteengpass bei Pflegefachkräften".

"Du kannst dir hier in Deutschland die Arbeit aussuchen, du kannst schauen, wo du am liebsten arbeiten willst. Wenn du arbeitslos bist, dauert es ein, zwei Tage und dann hast du schon ein neues Angebot", sagt Silva Farías.

In Brasilien sei es viel schwieriger, eine Stelle zu bekommen. "Dort ist die Konkurrenz riesig, mit Menschen, die fünf Jahre studiert und manchmal einen Master und sogar einen Doktor haben, und trotzdem keinen Job bekommen, weil es so wenig Arbeit gibt", erklärt Silva Farías.

Wer gewinnt? Wer verliert?

Deutschland und Brasilien scheinen beim Thema Pflegekräfte deshalb das perfekte Match zu sein, so sieht es Bundesarbeitsminister Hubertus Heil. Er ist deshalb jetzt zusammen mit Außenministerin Annalena Baerbock nach Brasilien geflogen.

Die Tour, die an diesem Montag (5. Juni) beginnt, ist Teil einer Anwerbe-Strategie, die sich auch auf Länder wie Mexiko oder Indonesien erstreckt. "Wir werden sehr sensibel vorgehen, damit wir keinem Land die Arbeitskräfte nehmen, die es selber braucht", sagte Heil in einem Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung.

Der Minister sieht Vorteile auf beiden Seiten: "Wir profitieren, die Herkunftsländer profitieren, etwa indem wir uns in der Ausbildung vor Ort engagieren, und die Menschen, die zu uns kommen, profitieren durch einen gut bezahlten Job für sie selbst und vielleicht auch durch die Möglichkeit, Familienangehörige in der Heimat finanziell zu unterstützen."

Deutschland Annalena Baerbock und Hubertus Heil
Werben in Brasilien um Pflegekräfte für Deutschland: Annalena Baerbock und Hubertus HeilBild: Jens Krick/Flashpic/picture alliance

Eine Win-Win-Situation also für alle Beteiligten? Patientenschützer haben so ihre Zweifel, dass sich die deutsche Fachkräftelücke aus dem Ausland lösen lässt. 2022 wurden gerade einmal 656 ausländische Pflegekräfte durch die Bundesagentur für Arbeit nach Deutschland vermittelt, die meisten aus den Philippinen.

"Ein innerdeutsches Problem"

"Der Mangel an Pflegekräften ist zuallererst ein innerdeutsches Problem. Das werden auch die wenigen zusätzlichen hundert brasilianischen Pflegerinnen und Pfleger nicht lösen", sagte der Vorstand der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, der Deutschen Presse-Agentur.

Und was ist mit Herkunftsländern wie Brasilien oder Mexiko? Gibt es bei dem Deal wirklich nur Gewinner, oder ist es nicht eher so, dass Deutschland mit dem sogenannten Brain Drain Lateinamerika qualifizierte Fachkräfte wegnimmt, welche diese Länder in Zukunft selbst benötigen?

Der mexikanische Chirurg Xavier Tello, einer der führenden Gesundheitsexperten in Lateinamerika, sieht es pragmatisch: "Dieser Brain Drain ist in einer globalisierten Welt ganz normal", sagt er im DW-Gespräch.

"Wenn ich bestens ausgebildet bin, und dies im Ausland mehr wertgeschätzt wird als in meiner Heimat, wo die Arbeitsbedingungen oft schlecht und die Löhne niedrig sind, ergibt dieser Schritt Sinn."

Mehr Wertschätzung, mehr Geld

Das Thema sei in der Region allerdings noch praktisch unsichtbar. "Aber wenn die Menschen davon erfahren, ist die Haltung eher so: 'Wenigstens erfahren unsere Pflegekräfte im Ausland die Wertschätzung, die sie zu Hause nicht bekommen.'"

Xavier Tello Chirurg und Gesundheitsexperte
Chirurg Xavier Tello: "Wenn Deutschland Pflegekräfte anlocken will, müssen sie Sprachkurse anbieten"Bild: Xavier Tello

Thaiza Maria Silva Farías kann die Gründe aufzählen, die Pflegekräfte in Lateinamerika dazu veranlassen, ihr Glück in Deutschland zu versuchen. Mehr Lebensqualität. Mehr Sicherheit. Und sechsmal so viel Geld in der Tasche bei nur einem Arbeitgeber und nicht bei zwei oder drei Krankenhäusern wie in Brasilien.

Doch Gesundheitsexperte Tello hat trotzdem keine Angst, dass Länder wie Mexiko demnächst selbst mit einem Mangel Pflegekräften zu kämpfen haben könnten. "Die Mexikaner sind sehr heimatverbunden, nach Deutschland mit einer neuen, schwierigen Sprache auszuwandern, wäre für sie ein Kulturschock und ist für sie die allerletzte Option. Interessanterweise wird das hierzulande auch bislang nicht als große Karrieremöglichkeit mit einem sehr guten Gehalt gehandelt."

Nachholbedarf bei der Integration

Für einige der Pflegekräfte, die Silva Farías mit Fragen zu Deutschland löchern, ist Europa auch nur als Etappe in der Lebensplanung angedacht. Sie planen, nach einigen Jahren zurück in ihre Heimat zu gehen.

Wenn Arbeitsminister Hubertus Heil und Außenministerin Annalena Baerbock mehr Personal aus Lateinamerika anlocken wollen, sollten sie, so die Brasilianerin, deshalb folgendes beherzigen:

"Die Krankenhäuser müssen besser auf ihre neuen Mitarbeiter vorbereitet sein. Das Personal hat oft keine Geduld, wenn die Menschen noch nicht gut Deutsch sprechen. Dabei sollte man ihnen ein Jahr Zeit geben, um die Sprache zu beherrschen. Deutschland muss die ausländischen Pflegekräfte mehr integrieren."

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur