1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Boreout: Wie Burnout, aber unterfordert

27. März 2020

Unterforderung und gähnende Langeweile im Job - auch das kann auf Dauer krankmachen. Beim Boreout-Syndrom tun Betroffene dennoch weiterhin so, als seien sie schwer beschäftigt. Klingt absurd, ist es aber nicht.

https://p.dw.com/p/3a7wF
Symbolbild Boreout-Syndrom | gähnender Kater
Bild: picture-alliance/picturedesk.com/A. Litzlbauer

In der Regel sind unsere Tage vollgepackt, mit Arbeit und Freizeit, mit Business-Meetings und After-Work-Drinks, mit Einkäufen, Sport und ach ja, vielleicht den Kindern. Und der Freizeitgestaltung der Kinder, den Hausaufgaben, und und und.

Doch gerade im Moment erleben viele von uns eine Art Entschleunigung. Homeoffice statt Büro, vielleicht etwas weniger Workload, Couch statt Ausgehen, Yogamatte statt Fitnessstudio. Freunde und Familie anrufen, anstatt sie zu treffen.

Es bleibt etwas mehr Luft, etwas mehr Zeit für sich, zum Atmen, zum Nachdenken.

Psychologin Jelena Becker: "Eine Auszeit ist eine gute Gelegenheit, um neue Ziele zu fassen"
Psychologin Jelena Becker: "Eine Auszeit ist eine gute Gelegenheit, um neue Ziele zu fassen" Bild: Privat

"Wohltuenden Müßiggang kennen wir eigentlich nur noch aus der Philosophie", sagt die Wirtschaftspsychologin Jelena Becker. "Im Alltag lassen wir kaum noch den Geist schweifen."

Ein paar frühe Dichter und Denker haben das wohl kommen sehen. Voltaire etwa, französischer Philosoph und Schriftsteller, bezeichnete die Langeweile schon im 18. Jahrhundert als unseren größten Feind.

Tatsächlich ist sie heute irgendwie verpönt, hat einen schlechten Ruf. Es gibt immer etwas zu tun. Sowohl im Job sind wir schwer beschäftigt (busy!) als auch im Feierabend. Freizeitstress (Chin-chin!).

Offiziell hustlen wir immer nur, sprich: Wir arbeiten hart - so hart, dass es manchmal ein jähes Ende nimmt, wenn wir ausgebrannt dastehen mit der Diagnose "Burnout".

Doch es gibt auch das andere Extrem. Auch Langeweile kann krankmachen, insbesondere, wenn wir sie Tag für Tag in unserem Beruf erleben. Das Boreout-Syndrom ist der jüngere Bruder des Burnouts.

Burnout vs. Boreout

Beginnen wir mit einem kurzen Exkurs, um das Verwandtschaftsverhältnis zu verstehen: Das Burnout-Syndrom tritt als Folge von andauerndem Stress und Überlastung am Arbeitsplatz auf. Dabei können die Auslöser und Symptome unterschiedlich sein, charakteristisch sind Erschöpfung und innere Leere.

Zum ersten Mal geisterte der Begriff in den 1970ern um, damals vor allem in Zusammenhang mit Pflegeberufen. Ein früher wissenschaftlicher Artikel erschien 1998 in dem Journal "Applied and Preventive Psychology". Darin beschrieb die Sozialpsychologin Christina Maslach von der University of California das Burnout-Syndrom als Reaktion auf chronische Stressfaktoren im Beruf.

Doch bis heute ist Burnout keine von der WHO anerkannte Krankheit, auch wenn diese Nachricht zeitweise die Runde machte. Denn: Eine einheitliche Definition fehlt noch immer. Über die Jahre wurden unzählige mögliche Symptome genannt, die auch auf andere psychische Erkrankungen hinweisen. Die Abgrenzung fällt daher sehr schwer, genauso wie konkrete Therapiemöglichkeiten. Die Behandlungen reichen von Stressbewältigung, Zeitmanagement, Entspannungstechniken in leichteren Fällen über Psycho- oder Verhaltenstherapie bei schwereren, anhaltenden Fällen.

Infografik Anteil Burnout Ländervergleich

L-A-N-G-W-E-I-L-I-G

Das mag vielleicht nichts Neues für Sie gewesen sein. Wobei wir damit auch schon beim Punkt wären: dem Boreout-Syndrom. Zu Deutsch: Langeweile, elende Langeweile.

Der Begriff wurde 2007 in "Diagnose Boreout" erstmals von den Unternehmensberatern Peter Werder und Philippe Rothlin kreiert und definiert. Im Rahmen der Frankfurter Buchmesse wurde es für zwei deutsche Wirtschaftsbuchpreise nominiert.

Nach Werder und Rothlin besteht das Boreout aus drei Elementen: Unterforderung, Desinteresse und Langeweile am Arbeitsplatz, die allerdings auch alle in Wechselwirkung miteinander stehen: "Wer permanent unterfordert ist, den beginnt seine Arbeit zu langweilen. Wer sich konstant langweilt, der verliert früher oder später das Interesse an dem, was er macht", schreiben die Autoren.

Ähnlich wie beim Burnout-Syndrom, kann sich dies durch Niedergeschlagenheit, Depressionen, Antriebs- und Schlaflosigkeit, aber auch Tinnitus, Infektionsanfälligkeit, Magenbeschwerden, Kopfschmerzen oder Schwindelgefühl bemerkbar machen.

Das Absurde

Und nun kommt der paradoxe Part des Syndroms. Als Folge ihres Leidens versuchen Boreout'ler trotzdem, weiterhin ausgelastet bei ihrer Arbeit zu wirken, etwa, um sich weitere Arbeit vom Leib zu halten. Die Wiener Soziologin Elisabeth Prammer hat ebenfalls eine Forschungsarbeit zum Boreout gemacht. In ihrer soziologischen Analyse "Boreout - Biografien der Unterforderung und Langeweile" beschäftigt sie sich mit den Verhaltenstrategien Betroffener - die Sie vielleicht noch gar nicht aus diesem Blickwinkel betrachtet haben.

Wer zum Beispiel den Aktenkoffer mit nach Hause nimmt, impliziert gleichzeitig Arbeit und Identifikation mit dem Unternehmen, die sogenannte Aktenkofferstrategie. Bei der Pseudo-Burnout-Strategie teilt der Betroffene allen mit, wie gestresst er sei. Dazu passt die Pseudo-Comittment-Strategie: früh kommen, spät gehen. Lautstarkes Tippen auf der Tastatur. Konferenztermine zu unmöglichen Zeiten. "Wer den Eindruck erwecken will, viel zu arbeiten, muss kommunizieren, viel zu arbeiten", so Prammer.

Infografik Kanal Flow Modell

Busy bee: den Schein wahren

Doch warum nur versuchen Boreout-Betroffene, zwanghaft beschäftigt zu wirken?

Einerseits sind sie sich ihres Leidens wahrscheinlich gar nicht bewusst. Wie auch - selbst Fachleute tun sich bei der Abgrenzung sowohl von Burnout als auch Boreout schwer, da international festgelegten Diagnosekriterien fehlen. Dazu kommt, dass viele Betroffene einen Psychologen mit den Symptomen des Burnout-Syndroms aufsuchen. Erst im Laufe einer Therapie könne es vorkommen, dass das soziale Gefüge der Symptome erfasst und ein Boreout diagnostiziert werden könne.

Doch die Gründe reichen weiter. Einerseits haben Betroffene Angst, sich durch Engagement an den Arbeitsplatz zu binden andererseits hätten viele auch Hemmungen, den Arbeitsplatz zu verlassen, nicht zuletzt, weil sie ökonomisch auf diesen angewiesen sind, so Prammer. Stattdessen begeben sie sich in die sogenannte innere Kündigung.

Wie das endet, beschreiben Werder und Rothlin treffend: "Ein über längere Zeit andauerndes Nichtstun bei der Arbeit ist nicht mehr und nicht weniger als der blanke Horror." Denn tagein, tagaus immer nur vorzuspielen, man sei beschäftigt, wird auf Dauer extrem anstrengend - und ist ganz nebenbei absolut unbefriedigend. "Herausforderung und Anerkennung fehlen", schreiben die Autoren.

Woher weiß ich, ob ich am Boreout-Syndrom leide?

Werder und Rothlin definieren in ihrem Buch eine Reihe an Fragen, um sich oder Bekannte zu testen. "Wenn Sie mehr als viermal ein Ja eingesetzt haben, leiden Sie am Boreout oder sind auf dem schlechtesten Weg dorthin", lautet ihr Urteil. Los geht's:

  1. Erledigen Sie private Dinge während der Arbeit?
  2. Fühlen Sie sich unterfordert oder gelangweilt?
  3. Tun Sie ab und zu so, als ob Sie arbeiten würden - tatsächlich haben Sie aber nichts zu tun?
  4. Sind Sie am Abend müde und erschöpft, obwohl Sie überhaupt keinen Stress hatten?
  5. Sind Sie mit Ihrer Arbeit eher unglücklich?
  6. Vermissen Sie den Sinn in Ihrer Arbeit, die tiefere Bedeutung?
  7. Könnten Sie Ihre Arbeit eigentlich schneller erledigen, als Sie dies tun?
  8. Würden Sie gerne etwas anderes arbeiten, scheuen sich aber vor dem Wechsel, weil Sie dabei zu wenig verdienen
  9. Verschicken Sie während der Arbeit private E-Mails an Kollegen?
  10. Interessiert Sie Ihre Arbeit nicht oder wenig?
  11. Wer sich im Job unterfordert fühlt: Tief durchatmen und reflektieren: Wo hakt es?
    Wer sich im Job unterfordert fühlt: tief durchatmen und reflektieren, wo es hakt Bild: Colourbox/AltoPress/Maxppp/E. Audras

Langeweile nutzen

Doch was nun? Was tun, wenn Sie glauben, tatsächlich gefährdet zu sein? "Erst einmal sollte man in sich hören und herausfinden, wo es hakt", sagt Jelena Becker. Unter Psychologen heißt das: herausfinden, ob unsere psychologischen Grundbedürfnisse erfüllt sind. Nach der Selbstbestimmungstheorie von Richard M. Ryan und Edward L. Deci hängt die Motivation für ein bestimmtes Verhalten immer davon ab, inwieweit die drei psychologischen Grundbedürfnisse nach Kompetenz, nach sozialer Eingebundenheit und nach Autonomie befriedigt werden können.

"Es gibt viele Jobs, die das nicht erfüllen", weiß Becker. Deshalb helfe es, zu reflektieren: Stehe ich dort im Leben, wo ich stehen möchte? Befriedige ich dieses Bedürfnis irgendwo anders, in der Familie, Beziehung, Freizeit? Oder reicht mir das womöglich nicht aus? 

"Das kann absolut hart sein", sagt die Psychologin. "Im Alltag sind unsere Tage so vollgepackt, dass wir nicht mehr oft zum Nachdenken kommen, aber unterbewusst trotzdem ganz viel passiert." Doch dieser Schritt, diese Erkenntnis sei wichtig und eine große Chance, um neue Ideen zu entwickeln und das Leben umzugestalten.

"Wer das alleine nicht schafft, kann sich auch professionelle Unterstützung holen", sagt sie. Beim Boreout gibt es - wie beim Burnout auch - verschiedene Ansätze, etwa eine tiefenpsychologisch orientierte Therapie, eine Verhaltenstherapie oder Logotherapie, die sich noch mehr mit der Sinnfindung beschäftigt."

Unternehmen: Verstecktes Potenzial nutzen

Gleichzeitig sieht Jelena Becker aber auch die Unternehmen bzw. Führungskräfte in der Pflicht. "Klar sind die Unternehmenswerte gut und wichtig, aber gleichzeitig gilt es auch, die Werte des Einzelnen zu sehen und wie sich beides kombinieren lässt."

Bedeutet für den Arbeitsalltag: Führungskräfte sollten noch mehr mit den Mitarbeitern im Gespräch sein. Was nicht heißt, ständig die Erfüllung der letzten Aufgaben oder die Arbeitsauslastung zu erfragen. Vielmehr geht es um die individuellen Ziele der Mitarbeiter. "Da schlummert so viel ungenutztes Potenzial", glaubt Becker.

Auch die Soziologin Prammer sieht die Personalpolitik in vielen Fällen an der Boreout-Entstehung beteiligt. "Mit Schuld ist dabei auch ein Schüren von Erwartungen - ein übertriebener psychologischer Arbeitsvertrag", schreibt sie. "Die Job- Description wird zu hoch angesetzt, die Jobs werden zu teuer angepriesen. Die Befragten sind ernüchtert und enttäuscht." Die erwartete Herausforderung bleibe aus und ein Boreout mit einer inneren Kündigung sei die Folge.

"Wofür gebe ich mich hin, oder wofür gebe ich mich her - das macht einen gewaltigen Unterschied", sagt Jelena Becker abschließend.

Hannah Fuchs Multimedia-Reporterin und Redakteurin mit Fokus auf Technik, digitalen Themen und Psychologie.