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Politik

Madrid: Warten auf das Ende

27. März 2020

Der Berliner Erasmus-Student Jannik Rade schildert der DW, wie es ihm momentan in Madrid ergeht. Seit elf Tagen gilt die Ausgangssperre. Die furchtbare Situation und das Warten zerrt bei den Bewohnern an den Nerven.

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Madrid während der Coronakrise
Bild: DW/J. Rade

DW: Madrid ist das Epizentrum des Corona-Virus in Spanien. Was bekommst du davon mit?

Jannik Rade: Es ist ja nicht nur Spanien, sondern zurzeit fast die ganze Welt. Madrid ist jetzt fast so schlimm dran wie die Lombardei in Italien. Vor etwa drei Wochen hat meine Universität angekündigt, dass sie voraussichtlich für zwei Wochen schließt. Danach kamen noch viele E-Mails. Jetzt heißt es, dass sie bis auf weiteres geschlossen bleibt. Seitdem wurde nach und nach das öffentliche Leben heruntergefahren. Erst haben sie alle Veranstaltungen abgesagt, dann mussten alle Bars, Cafés und Restaurants schließen, später alle anderen Läden bis auf Supermärkte und Apotheken.

Wie hat sich das Straßenbild verändert und die Stimmung in der Stadt?

Normalerweise stehen vor jedem Restaurant, jeder Bar und jedem Café Tische und Stühle auf der Straße. Auch unter der Woche und trotz des Winters ist es manchmal nicht ganz einfach, einen Platz zu finden. Im Zentrum sind die Straßen kleiner und nur Anwohner dürfen mit dem Auto hereinfahren, deshalb sind die Straßen normalerweise voll mit Menschen. Das ist jetzt alles anders. Die Stühle und Tische bleiben, wie sonst nur nachts, angekettet und gestapelt oder man sieht sie durch die Scheiben in den dunklen Cafés.

Ich wohne im vierten Stock eines 16-stöckigem Neubaus an einem kleinen Platz. Unten im Erdgeschoss sind drei Bars nebeneinander. Jeden Abend, auch im Winter, sind so gut wie alle Tische und Stühle draußen besetzt. Um Mitternacht müssen sie die Stühle und Tische reinholen. Bis dahin hört man auch mit geschlossenem Fenster ständig ein Gebrabbel von Stimmen, klimpernde Gläser und das Verrücken von Stühlen. Ich hatte mich an die Geräusche schon gewöhnt, genauso wie an den ständig mit Autos verstopften mehrspurigen Kreisverkehr. Und jetzt ist es völlig still und die Straßen sind leer.

Corona in Madrid
Leere Straßen in Madrid - die spanische Hauptstadt in Zeiten von Corona und AusgangssperreBild: picture-alliance/Geisler-Fotopress

Wie sieht dein Alltag jetzt aus?

Ich schlafe aus bis elf, manchmal auch länger. Dann frühstücke ich und setze mich mit Kaffee und Laptop auf den Balkon, wenn es warm genug ist. Danach versinke ich ein paar Stunden auf Nachrichtenseiten und Twitter. Seit der Ausgangssperre übe ich auch wieder täglich Gitarre zu spielen. Ich habe auf YouTube ein paar fantastische Lehrer gefunden. Einer meiner Mitbewohner ist Physiotherapeut. Der leitet jetzt unser tägliches Workout im Wohnzimmer an.

Die meisten Übungen funktionieren mit eigenem Körpergewicht, als Gewichte benutzen wir einen Beutel voll mit Kartoffeln. Bei den Kniebeugen zum Beispiel benutzen wir einen großen Rucksack, gefüllt mit dem Vorrat an Katzenfutter, Reis und ein paar Wasserflaschen. Abends kochen wir, manchmal auch aufwändiger mit Nachtisch. Danach schauen wir bis spät nachts Netflix. Jeder Tag ist fast gleich.

Dreimal habe ich bis jetzt das Haus verlassen, zweimal zum Supermarkt, einmal, um das Mietauto zurückzugeben. Vor dem Supermarkt gab es beide Male eine Schlange, die länger wirkt als sie wirklich ist, weil alle zwei Meter Abstand voneinander halten müssen. Der Sicherheitsmann winkt einen erst rein, wenn jemand anderes den Laden verlassen hat. Es gibt je nach Größe des Ladens eine maximale Anzahl von Leuten, die sich drinnen aufhalten dürfen. Die meisten tragen eine Maske, Handschuhe werden am Eingang bereitgestellt und sind Pflicht. Gezahlt werden soll nach Möglichkeit mit Karte.

Wann hattest du zuletzt Besuch von Freunden?

Zwei Freunde sind genau eine Woche vor der Ausgangssperre angekommen. Für ein paar Tage war die Rede davon, Madrid abzuriegeln, so wie die Lombardei in Italien. Die haben sich Sorgen gemacht, ob sie wieder zurückkommen. Dann kam die E-Mail von meiner Universität und dann haben wir den fürs Wochenende geplanten Trip nach La Pedriza, einem Klettergebiet eine Stunde nördlich von Madrid, vorverlegt. Sie hatten eine Woche später einen Zug aus Barcelona Richtung Berlin gebucht, also sind wir nach Siurana, einem Klettergebiet in Katalonien, gefahren.

Abends hingen wir alle vor unseren Handys und haben auf der Seite von El País über die nächsten Maßnahmen und Zahlen von Spanien gelesen. Als Premierminister Pedro Sánchez dann erst den Ausnahmezustand und dann die Ausgangssperre ab Montag angekündigt hat, haben die beiden sofort einen Flug von Barcelona nach Berlin gebucht. Eine andere Freundin, die für das Studium einen Monat davor nach Barcelona gezogen war, flog einen Tag später. Ich war dann allein und bin in der Nacht von Sonntag auf Montag zurück nach Madrid.

Madrid während der Coronakrise
Arbeiten und Chatten auf dem Balkon - der Berliner Erasmus-Student Jannik Rade in MadridBild: DW/J. Rade

Was bekommst du von deinen spanischen Nachbarn mit?

Nicht viel. Es gibt zwei Fahrstühle. Wenn jetzt schon jemand im Fahrstuhl ist, steigt man nicht dazu, sondern wartet. Abends um acht Uhr wird es sehr laut, weil viele ans Fenster oder auf den Balkon gehen, um mit Löffeln auf Töpfe zu hauen, zu klatschen oder irgendwie anders Krach zu machen. Von den Häusern gegenüber sieht man die Leute mit ihrem Handylicht flackern, am Fenster stehen oder das Balkonlicht an- und ausmachen. Das Ganze geht so zehn Minuten, bevor es langsam weniger wird. Einmal ist unten zu der Zeit ein Polizeiauto entlang gefahren, die haben dann auch im Rhythmus gehupt.

Wie hältst du den Kontakt zu Freunden und der Familie?

Mit FaceTime, WhatsApp und per Video. Auch meine Großmutter kann ihr iPhone gut genug bedienen, um mich per Video beim Kochen anzuleiten. Gerade mit meinen Freunden aus Deutschland habe ich seitdem viel mehr Kontakt, die haben ja jetzt auch mehr Zeit und sind meistens zu Hause. Manchmal rufe ich auch einfach so mit Video an, ohne davor Nachrichten zu schreiben. Die meisten gehen ran und haben Zeit und Lust zu quatschen. Am meisten wird natürlich über das Virus geredet, über Homeoffice und wer im Bekanntenkreis alles so schon positiv getestet wurde.

Kannst du noch irgendwie studieren? Gibt es digitale Möglichkeiten?

Ja, wir müssen weiterhin die Texte lesen, Essays abgeben und im Forum diskutieren. Für einen Kurs sollen wir sogar eine Präsentation halten, filmen und dann hochladen. Trotzdem ist es viel schwerer, wenn man sich ganz alleine mit einem schwierigen Text auseinandersetzen muss, der dann nicht mehr anschließend zwei Stunden in der Klasse besprochen wird. In den Foren beteiligen sich eigentlich auch nur so zwei bis drei Leute.

Befürchtest Du, dass sich dadurch deine berufliche Zukunft zum Schlechteren verändert?

Im Juli hätte ich eigentlich ein Praktikum in Berlin. Das wurde jetzt auf September verschoben. Ich hoffe, es wird nicht ganz abgesagt. Ansonsten mache ich mir eigentlich keine Sorgen. Wenn ich hier alles rechtzeitig abgebe, bekomme ich meine Punkte. Das nächste Semester in Berlin geht ja erst ab Mitte Oktober los. Bis dahin ist hoffentlich alles wieder normal.

Was ist für dich das Schlimmste in dieser Situation?

Ich hatte mich gerade richtig eingelebt in Madrid, kann immer besser Spanisch, hatte einen Freundeskreis und meine Lieblingsorte. Fast jeden Abend waren wir unterwegs, in Bars auf Jam Sessions und so etwas. Jetzt sitze ich den ganzen Tag in der Wohnung. Das nervt, zumal das Wetter gerade schön ist.

Auf was freust Du dich am meisten, wenn diese Situation überwunden ist?

Auf der Straße in der Sonne zu sitzen und Kaffee zu trinken.

Jannik Rade kommt aus Berlin. Der 25-jährige studiert im Hauptfach Philosophie und im Nebenfach Volkswirtschaftslehre. Im August letzten Jahres zog er für ein Auslandsjahr nach Madrid. Als wir das Interview mit ihm führten, war es der elfte Tag der Ausgangssperre in Spanien.