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Antisemitismus in Deutschland: Wo bleibt die Empathie?

Torsten Landsberg | Nadine Wojcik
24. November 2023

Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel hat der Judenhass in Deutschland zugenommen. Wie geht die jüdische Kulturszene mit wachsendem Antisemitismus um? Pianist Igor Levit lädt zum Solidaritätskonzert.

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Nahaufnahme eines Lexikonseintrags zu Antisemitismus. Daneben liegt ein Davidstern.
Seit dem Hamas-Angriff steigt die Zahl antisemitisch motivierter Straftaten in DeutschlandBild: Michael Bihlmayer/CHROMORANGE/picture alliance

Judensterne an Häuserwänden, pro-palästinensische Demonstrationen, auf denen antisemitische Parolen gerufen werden, ein Anschlag auf eine Synagoge: Seit dem Angriff der militant-islamistischen Hamas auf Israel am 7. Oktober wird Antisemitismus auch in Deutschland wieder offen zur Schau gestellt.

"Ich bin überrascht über die soziale Kälte und den Mangel an Empathie bei vielen Menschen", sagt Andrei Kovacs, Geschäftsführer des Vereins "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" im DW-Gespräch. "Das lange Schweigen im deutschen Kulturbetrieb, wenig Zivilcourage in der Gesellschaft - die Situation ist besorgniserregend."

"Kein exklusiv deutsches Problem"

Der Krieg in Nahost sei komplex und natürlich könne man über Politik streiten, sagt er. "Aber der 7. Oktober war eine Zäsur für jüdisches Leben, ein Pogrom, ein bestialisches Massaker. Da verbietet es sich, die Taten vor historischen oder politischen Hintergründen zu relativieren." 

Vereinsgeschäftsführer Andrei Kovacs spricht in ein Mikrofon.
Musiker, Unternehmer und Vereinsgeschäftsführer: "Ich bin überrascht über die soziale Kälte", sagt Andrei Kovacs Bild: Hauke-Christian Dittrich/dpa/picture alliance

Sein Verein organisierte 2021 im Festjahr anlässlich des 1700-jährigen Bestehens jüdischer Gemeinschaften in Deutschland zahlreiche Veranstaltungen, um über jüdische Traditionen und Kultur zu informieren.

"Wir haben niedrigschwellige Konzepte entworfen, waren besonders auch in ländlichen Gebieten präsent, in denen das Judentum nicht so verbreitet und darüber wenig bekannt ist."

Laufen solche Initiativen angesichts der aktuellen Situation ins Leere? "Antisemitismus hat eine lange Tradition und ist kein exklusiv deutsches Problem", sagt der Musiker und Unternehmer Andrei Kovacs. Es brauche Ausdauer, ihn zu bekämpfen. 

Ein eingeschlagener Schaukasten, darin ist die Aufschrift "jüdisch" zu lesen.
Vandalismus: Vor dem Rathaus Tiergarten in Berlin wurde der Schaukasten einer Ausstellung zur jüdischen Geschichte des Krankenhauses Moabit eingeschlagenBild: Annette Riedl/dpa/picture alliance

Die Zahl der antisemitisch motivierten Straftaten in Deutschland ist seit dem Hamas-Angriff auf Israel deutlich gestiegen. Laut Bundeskriminalamt (BKA) sind 680 antisemitische Straftaten gemeldet worden. Davon stünden mehr als 550 im Zusammenhang mit der aktuellen Krise im Nahen Osten. 

Diese Zahl liege deutlich über dem Durchschnittswert. Das Eskalationspotenzial sei hoch, warnte BKA-Präsident Holger Münch.

Igor Levit lädt zum Solidaritätskonzert

Auch Starpianist Igor Levit zeigt sich angesichts der "Explosion von Antisemitismus und Judenhass" erschüttert. Er erlebe eine "fehlende Empathie".

Dies habe dazu geführt, "dass ich mein Grundvertrauen in das, was Gesellschaft in Deutschland ist, verloren habe", erklärte er in einem Interview in der Wochenzeitschrift "Die Zeit".

Der Hass auf Juden sei nicht nur eine Bedrohung für ihn selbst, sondern für die "Existenzgrundlage dieser Bundesrepublik." Er spüre Wut und würde am liebsten alle anschreien: "Merkt ihr eigentlich nicht, dass es gegen euch geht? 'Tod den Juden!' heißt 'Tod der Demokratie!'"

Igor Levit spricht bei einer Kundgebung in Berlin am 17.11. in ein Mikrofon.
Igor Levit bei der Kundgebung "Fridays for Israel" am 17. November in BerlinBild: Britta Pedersen/dpa/picture alliance

Doch der jüdische Pianist, der 1995 mit seinen Eltern aus dem russischen Gorki nach Hannover übersiedelte, möchte diese Worte so nicht stehen lassen. Gemeinsam mit dem Berliner Ensemble, eine der bekanntesten Bühnen der deutschen Hauptstadt, lädt er am Montag (27.11.2023) zu einem Solidaritätskonzert ein.

Auf seinem Instagram-Kanal schreibt Igor Levit: "Ich rufe Sie alle dazu auf, dabei zu sein. Ein Zeichen, ein Statement - gegen Antisemitismus. Denn es kann keine Neutralität, keine Indifferenz geben, wenn es um Judenhass, wenn es um Menschenhass jeglicher Form geht. Niemals."

Das Solidaritätskonzert steht unter dem Titel "Gegen das Schweigen. Gegen den Antisemitismus". Neben Musik ist eine Gesprächsrunde mit DW-Moderator Michel Friedman, ZDF-Journalistin Dunja Hayali, Klimaaktivistin Luisa Neubauer, Schauspieler Ulrich Noethen, Popmusiker Sven Regener und Theaterregisseurin Katharina Thalbach geplant.

Mit einem spontanen Konzert in Tel Aviv überraschte Igor Levit vor rund zwei Wochen Patientinnen, Krankpfleger und Ärztinnen des Ichilov-Krankenhauses. Die Klinik behandelt zahlreiche Verletzte und Verwundete, die Opfer der Hamas-Angriffe am 7. Oktober wurden.

Ein Video von dem Auftritt in der Lobby des Krankenhauses postete Deutschlands Botschafter Steffen Seibert auf X (ehemals Twitter). Zuvor hatte Levit in kleinem Kreis für die Angehörigen der Hamas-Geiseln gespielt.

Die Hamas wird von Israel, Deutschland, der EU, den USA und anderen Staaten als Terrororganisation gelistet.

Die Koffer im Blick

Im Interview mit "Der Zeit" sagte der in Russland geborene Pianist, dass er mit dem Gedanken gespielt habe, Deutschland zu verlassen. Noch sei er aber noch nicht so weit.

Deborah Middelhoff hingegen, Chefredakteurin für Kulinarik-Magazine beim Jahreszeiten-Verlag, gab bekannt, dass sie mit ihrem Mann auswandern wolle. 

"Vor dem Hintergrund meiner Zugehörigkeit zur jüdischen Glaubensgemeinschaft und aufgrund der aktuellen Entwicklungen in Deutschland habe ich mich entschieden, meinen Lebensmittelpunkt ins Ausland zu verlegen", ließ sie über den Verlag mitteilen. 

Demonstranten mit Israel-Fahnen bei Demonstration "Jüdisches Leben Berlin" am 19. November in Berlin
Stoppt Antisemitismus: Auf der Demonstration "Jüdisches Leben Berlin" am 19. November schwingen rund 500 Teilnehmende israelische FahnenBild: Annette Riedl/dpa/picture alliance

Sitzen Jüdinnen und Juden in Deutschland auf gepackten Koffern? "Ich habe Sorge, ja - aber Angst ist die falsche Reaktion", sagt Andrei Kovacs. 

Seine Großeltern überlebten das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Deshalb sei die Frage, ob Deutschland Heimat sei, immer präsent gewesen. "Es gibt den Blick auf die Koffer", sagt er zwar, aber er spüre einen breiten Rückhalt aus der Politik und Teilen der Zivilgesellschaft. "Das gibt Mut."