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Angekommen, aber noch nicht begrüßt

Kerstin Hilt29. Januar 2005

Der Film "Alles auf Zucker" über jüdischen Alltag ist für Paul Spiegel "ein kleiner Meilenstein auf dem Weg zur Normalität". Normal ist in Deutschland, dass viele gar nichts mit jüdischer Kultur anzufangen wissen.

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Die Thorarolle wird in die neue Rostocker Synagoge getragenBild: dpa
Paul Spiegel
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul SpiegelBild: dpa

Die Bodyguards sind immer dabei, wenn Paul Spiegel morgens aus dem Haus geht. Auch wenn er sich - in seinem eigentlichen Beruf Chef einer Künstler-Agentur - zum Mittagessen mit Sängern oder Schauspielern trifft. Absperrungen, Polizisten und Metalldetektoren vor Synagogen und jüdischen Gemeindezentren gehören dazu. Paul Spiegel, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, sagt, dass er seine persönliche Gefährdung einfach ausblende.

So, wie sich schon sein Vater darüber keine Gedanken gemacht habe: "Als sich im April 1945 die KZ-Tore von Dachau öffneten, hat er sich die Frage 'Wohin gehe ich jetzt?' gar nicht gestellt, denn er wollte einfach nach Hause", erzählt Spiegel. "Und zu Hause, das war für ihn nicht nur Deutschland, sondern Warendorf in Westfalen, was seine Heimat war."

Und so zog auch Paul Spiegels Mutter mit ihrem damals achtjährigen Sohn nach Deutschland zurück - aus Belgien, wo sie 1938 untergetaucht war.

Jüdische Gemeinden wachsen

Von den einst 500.000 Deutschen jüdischen Glaubens lebten nach dem Weltkrieg nur noch 25.000 in Deutschland. Seit 1990 wachsen die jüdischen Gemeinden wieder: Seitdem sind 80.000 jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion, in ihrer Heimat oft verfolgt, von Deutschland aufgenommen worden.

"Die Hauptaufgabe der Gemeinden ist es jetzt, den Neu-Einwanderern Judentum beizubringen", erklärt Paul Spiegel. "Das Judentum kannten sie bislang nur aus ihrem Pass, wo drinstand: Nationalität Jude."

Hilfe, aber auch Skepsis

Synagoge
Die Kuppel der Neuen Jüdischen Synagoge in der Oranienburger Straße im Berliner Stadtbezirk MitteBild: dpa

Die jüdischen Gemeinden bemühen sich, mehr Rabbiner auszubilden - 30 gibt es im Moment in Deutschland für insgesamt 83 Gemeinden. Außerdem hilft man den Neuankömmlingen bei der Wohnungssuche und gibt Sprachunterricht.

Von den alteingesessenen Gemeindemitgliedern würden diese Anstrengungen oft skeptisch beäugt, sagt der Zentralrats-Vorsitzende: "Sie kommen zu einer Gemeindeveranstaltung, und dann hören sie nur die russische Sprache und kaum noch Deutsch. Das gibt natürlich schon Probleme."

Mit dem Zulauf wächst die Uneinigkeit

Seit die Gemeinden größer werden, wird heftiger um die Auslegung des jüdischen Glaubens gerungen. Orthodoxe stehen liberalen Juden gegenüber. Es geht um den Status der Thora, um die Frage, ob Frauen Rabbiner werden dürfen, und nicht zuletzt ums Geld. Denn die Zuwendungen, die der Zentralrat vom Staat bekommt, gingen bislang an den liberalen Gemeinden vorbei. Inzwischen ist ein Kompromiss gefunden – Spiegel betont die Neutralität des Zentralrats: "Der Zentralrat ist keine religiöse Organisation, der Zentralrat ist keine jüdische Bischofskonferenz. Der Zentralrat ist eine politische Einrichtung."

"Mit uns lachen, nicht über uns"

Dass innerjüdische Konflikte nun auch öffentlich ausgetragen werden, ist das ein Zeichen dafür, dass die Juden mittlerweile im Nachkriegs-Deutschland angekommen sind? Angekommen seien sie schon lange, meint Paul Spiegel. Die Frage sei, ob man sie auch willkommen heiße. Noch immer wüssten nicht-jüdische Deutsche viel zu wenig über die jüdische Religion und vor allem über jüdischen Alltag.

Seit kurzem kann man in Deutschland jüdisches Familienleben aus nächster Nähe betrachten - in der Kinokomödie "Alles auf Zucker!". Für Paul Spiegel ist das sehr wichtig. "Es ist ein Film, in dem die Menschen endlich mal mit uns lachen und nicht über uns lachen. Ich finde den Film einen kleinen Meilenstein auf dem Weg zu einer gewissen Normalität."