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Das moralische Dilemma der Helfer

7. November 2011

Verlängert humanitäre Nothilfe Gewalt und Konflikte? Eine Frage, die sich Nothelfern immer wieder stellt – auch in der aktuellen Hungerkrise in Somalia.

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A man carries a bag of food at a food distribution point near the border town of Dadaab, Kenya, Saturday, July 23, 2011. People who can barely stay on their feet due to hunger walk for days or even weeks through parched wasteland to find a meal and water. Many of them also set out to seek help for their ailing children. The drought in the Horn of Africa and the famine in Somalia has left more than two million children at risk of starvation. (Foto:Schalk van Zuydam/AP/dapd)
Bild: dapd

Abshiro Mohammed hat sich mit Plastikplanen und Stöcken ein notdürftiges Dach über dem Kopf gebaut. Fünf Kinder hat der dürre Bauer aus dem Süden des Landes zu versorgen, doch er weiß nicht, womit. Und dann die Krankheiten. "Wir haben keine Latrinen hier, deshalb verbreiten sich Durchfallerkrankungen und Cholera rasend schnell", sagt er. "Uns allen hier geht es schlecht, und es kommen immer mehr Flüchtlinge nach - wir wissen nicht, wo das enden soll."

Hunger, Leid und Tod sind allgegenwärtig in Somalia. Das ist seit mehr als zwanzig Jahren so, doch wegen der schlimmsten Dürre seit Jahrzehnten ist die Lage derzeit in weiten Teilen des Landes so schlimm wie noch nie. 750.000 Somalis droht der Hungertod, so die aktuelle UN-Schätzung, unter ihnen mehr als 400.000 Kinder. Je nach Region reichen die Nahrungsvorräte noch maximal ein paar Monate, teils geht es nur um Wochen.

Hoffen auf das Ausland

Die Somalis, von denen Hunderttausende über die Grenzen nach Kenia und Äthiopien oder in die von afrikanischen Truppen halbwegs gesicherte Hauptstadt Mogadischu geflohen sind, haben nur eine Hoffnung: Internationale Nothilfe. "Die Menschen, die hierher kommen, sind schwach, und niemand hilft", klagt Musseh Hassan, der eines der auf 200 geschätzten Notlager in Mogadischu betreut. "Wir rufen die internationalen Hilfsorganisationen auf, schnell etwas zu tun und den Menschen zu helfen."

Auf eine Milliarde US-Dollar schätzen die UN den Hilfsbedarf. Weil in den Dürregebieten inzwischen heftige Regenfälle begonnen haben, zählt dazu auch die Vorsorge gegen Cholera und andere im Trinkwasser übertragenen Seuchen. Immerhin drei Viertel des Bedarfs sind inzwischen gedeckt. Viele Hilfsorganisationen haben gezielt zu Spenden für Somalia aufgerufen, seit sich im Sommer die Medienaufmerksamkeit auf die Krise am Horn von Afrika richtete. Gruppen, die nie zuvor in Somalia aktiv waren, tummeln sich derzeit ebenso in Mogadischu wie seit langem etablierte Organisationen.

Zum Hunger kommt noch der Bürgerkrieg

Sie eint ein Problem. Denn in Somalia wütet nicht nur der Hunger, sondern auch ein handfester bewaffneter Konflikt. Die Islamisten der Shabaab-Bewegung, die sich als Teil des Al-Kaida-Netzwerks verstehen, haben jenseits von Mogadischu fast das ganze Land unter ihrer Kontrolle. Sie liefern sich einen brutalen Bürgerkrieg mit Somalias Übergangsregierung und seit kurzem auch mit der kenianischen Armee. Nothilfe außerhalb von Mogadischu ist zwangsläufig auch Hilfe für die Shabaab, argumentieren Kritiker. Damit würden die "humanitären" Helfer den Konflikt in Somalia weiter am kochen halten und auf Dauer mehr Leid verursachen als lindern.

Florian Westphal, stellvertretender Kommunikationsdirektor des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Genf, sieht das anders. "Generell kann man nicht sagen, dass Nothilfe Konflikte verlängert", sagt er. "Aber: Nothilfe stellt in Konfliktgebieten immer auch eine erhebliche Ressource dar, die attraktiv ist für die Konfliktparteien." Für die humanitären Helfer gelten besondere Regeln. Die Genfer Konvention erlaubt ihnen, Bedürftigen unabhängig davon zu helfen, auf welcher Seite sie stehen. Einzige Ausnahme: Kämpfer, die direkt am Konflikt beteiligt sind. "Wir versuchen denen zu helfen, die unsere Hilfe am dringendsten benötigen", sagt Westphal. "Das führt manchmal zu Auseinandersetzungen, denn oft gibt es auf einer Seite mehr Bedürftige als auf der anderen." Dann helfen nur Erfahrung und Kontakte. "Wenn man unbedarft von außen in eine Situation reinkommt, die man nicht kennt, ist das Risiko ungleich größer als wenn man wie wir oft schon seit Jahrzehnten vor Ort ist."

Prozente für die Milizen

Einige Hilfsorganisationen arbeiten in Gebieten, die von der islamistischen Shabaab kontrolliert werden. "Nahrungshilfe, ärztliche Nothilfe, das ist für die Shabaab alles kein Problem, solange wir nicht anfangen, politisch aktiv zu werden", sagt ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation, der nicht genannt werden will. Dem Franzosen ist bewusst, dass die Hilfe auch aktive Shabaab-Kämpfer erreicht. "Das nehmen wir in Kauf." Rashid Abdi, Somalia-Analyst der International Crisis Group, fordert sogar, mit den Islamisten direkt zu verhandeln. "Die Islamisten wollen die Arbeit der Hilfsorganisationen natürlich zu ihrem Vorteil nutzen und auch die eigenen Milizen versorgen", so Abdi. "Die Shabaab würde einen Teil der Nahrungshilfe behalten wollen, zehn Prozent oder so - aber das ist der Preis den man zahlen muss, wenn man Hunderttausende retten will."

Zu solchen Zugeständnissen ist das UN-Welternährungsprogramm (WFP) nicht bereit. "Wir erklären Ältesten und Dorfgemeinschaften immer wieder, dass wir unabhängig bleiben müssen", sagt WFP-Sprecherin Stephanie Savariaud. "Die, die nichts zu essen haben, müssen etwas zu essen bekommen, und das darf nichts mit der Clanzugehörigkeit oder politischer Zugehörigkeit zu tun haben." Dennoch steckt das WFP in einem Dilemma: nicht nur, dass es nach eigenen Angaben Millionen Hungernde in weiten Teilen Somalias nicht erreicht. Einem internen UN-Untersuchungsbericht von Anfang 2010 zufolge kommt die Hälfte der WFP-Nahrungsmittelhilfe gar nicht erst bei den Hungernden an.

Kartell der Transporteure

Lokale Partnerorganisationen und somalische WFP-Angestellte sollen demnach dreißig Prozent der Hilfe abzweigen, um sie auf Märkten oder an Rebellen zu verkaufen. Zehn Prozent stehlen die vom WFP beauftragten Subunternehmer, gut weitere zehn bewaffnete Gruppen, die das jeweilige Gebiet kontrollieren. "Eine Handvoll somalischer Subunternehmer hat ein mächtiges Kartell gegründet", schreiben die Autoren des Berichts. "Einige von ihnen leiten ihre Gewinne oder die Nahrungsmittel an bewaffnete Oppositionsgruppen weiter." Es geht um Beträge von hunderten Millionen Euro.

Der Vorsitzende von 'Ärzte ohne Grenzen' (MSF), der Inder Unni Karunakara, zweifelt zudem daran, dass die Krise in Somalia überhaupt mit mehr Geld und mehr Hilfsgütern allein zu lösen ist. "Wir müssen womöglich mit der Realität leben, dass wir viele Hungernde nie erreichen werden können", sagt Karunakara nach einer Reise durch Somalia. "Ärzte ohne Grenzen ist seit zwanzig Jahren in Somalia, und wir wissen: wenn wir Probleme mit unserer Arbeit haben, dann sind andere gar nicht in der Lage, zu arbeiten."

Wie weit dürfen Hilfsorganisationen gehen?

Karunakaras Kritik erinnert an die in Entwicklungskreisen heiß diskutierten Thesen der ehemaligen MSF-Vorsitzenden in Deutschland, Ulrike von Pilar. Die stellte offen die Gretchenfrage: wann stößt humanitäre Hilfe, die weder Täter noch Opfer, sondern nur Hilfsbedürftige sieht, an ihre Grenzen? Wie stark dürfen Hilfsorganisationen ihre Berichte über die Zustände im Hilfsempfängerland einschränken, um nicht von weiterer Hilfe ausgeschlossen zu werden?

Von Pilar bezog sich dabei unter anderem auf den Völkermord in Ruanda 1994. Zum ersten und bislang einzigsten Mal rief MSF in Ruanda zu einer militärischen Intervention auf, ein Schritt, der fast allen Grundfesten humanitären Engagements widerspricht. Doch von Pilar verteidigt den Aufruf: Ärzte könnten nun mal keinen Völkermord verhindern und müssten deshalb, wenn sie ihn beobachteten, Druck auf politische Entscheider ausüben.

Erfolg hatte MSF mit seinem Aufruf damals nicht. Frankreich schickte zwar Militär, allerdings nur, um einen 'humanitären Korridor' einzurichten, der auch dem unbehelligten Abzug zahlreicher Völkermörder diente. Das Beispiel zeigt, wie sehr das Wort 'humanitär' heute missbraucht wird. Auch die Bundeswehr leistet in Afghanistan 'humanitäre Arbeit', womit das eigentliche Ziel - militärische Hilfe für eine Seite im afghanischen Konflikt - verbrämt wird. Und auch die Afrikanische Union forderte nach Ausbruch der Hungerkrise in Somalia einen militärischen Einsatz afrikanischer Truppen zur Eröffnung 'humanitärer Korridore' in Somalia - die tatsächlich dem Kampf gegen die Shabaab dienen sollten.

Autor: Marc Engelhardt
Redaktion: Matthias von Hein

FILE - This Dec. 8, 2008 file photo shows armed fighters from Somalia's al-Shabab jihadist movement traveling on the back of pickup trucks outside Mogadishu. Training camps in the lawless nation of Somalia are attracting hundreds of foreigners, including Americans, and Somalis recruited by a local insurgent group linked to al-Qaida, according to local and U.S. officials. American officials and private analysts say the camps pose a security threat far beyond the borders of Somalia, including to the U.S. homeland. (AP Photo/Farah Abdi Warsameh, File)
Helfen, auch wenn Al-Shabaab profitert?Bild: AP
In this photo of Saturday, Aug.13, 2011 Somali women selling stolen food aid hide their faces from a photographer at a market in Mogadishu on Saturday. An Associated Press investigation in Somalia has found that thousands of sacks food aid are being stolen and sold on the black market, undermining the international response to the country's crippling famine. Sacks of food stamped with emblems from the World Food Program, the U.S. government aid arm USAID and the Japanese government are for sale in Mogadishu markets.(AP Photo)
Gedacht für Hungernde, gelandet auf dem Markt: HilfsgüterBild: AP
epa02950365 People gather around a body of a car bomb explosion victim in war-torn Somalia's capital Mogadishu, 04 October 2011. Reports state that more than 50 people have been killed after a vehicle exploded in front of the Ministry of Education building. Al Qaeda-linked Islamic militia al-Shabab has claimed responsibility for the deadly attack. EPA/ELYAS AHMED
Somalia: Terror, Hunger, HoffnungslosigkeitBild: picture alliance/dpa
As a sandstorm comes up, these two boys check out the situation at at refugee camp in Dadaab, northeastern Kenya on thursday, August 4, 2011. Somalia and parts of Kenya have been struck by one of the worst draughts and famines in six decades, more than 350.000 refugees have found shelter in the worlds biggest refugee camp. Photo: Boris Roessler dpa
Planen zum Wohnen, Hilfsgüter zum EssenBild: picture alliance/dpa