1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Flüchtlingsleben regional

Andrea Grunau16. Oktober 2014

Alle Asylbewerber haben im Prinzip gleiche Rechte und Pflichten. Doch wie sie in Deutschland leben, hat viel damit zu tun, an welchem Ort sie landen. Je mehr Flüchtlinge kommen, desto mehr fällt auf, wo es hakt.

https://p.dw.com/p/1DWg2
Eine syrische Familie sitzt 2012 vor einer Flüchtlingsunterkunft (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

"Nachdem die Personen in Gewahrsam genommen wurden, stellten sie in den Diensträumen der Bundespolizei in Kleve einen Asylantrag", so schreibt die Bundespolizei über eine sechsköpfige syrische Familie mit drei Kleinkindern. Die Polizisten holten sie aus dem Nachtzug von Amsterdam nach Kopenhagen, weil sie keine Aufenthaltserlaubnis für Deutschland hatte. Ähnliches passiert derzeit täglich an den deutschen Grenzen. "Nach Abschluss der polizeilichen Maßnahmen wurden die Syrer zum Bahnhof gebracht", berichtet die Polizei, "um von dort zur zentralen Ausländerbehörde des Landes Nordrhein-Westfalen in Dortmund zu fahren".

An wen müssen sich Flüchtlinge wenden?

Wer in Deutschland Schutz vor Verfolgung sucht, muss persönlich einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) stellen. Das BAMF hat Außenstellen in allen 16 Bundesländern bei den Erstaufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge, denn die Unterbringung ist Ländersache.

Eine Gruppe Flüchtlinge steht vor einem Gebäude (Foto: dpa)
Asylbewerber vor einer ErstaufnahmeeinrichtungBild: picture-alliance/dpa/A. Dedert

Das BAMF registriert persönliche Daten, macht Fotos und nimmt von allen Antragstellern ab 14 Jahren Fingerabdrücke. Man prüft, ob es eine Registrierung oder einen Asylantrag in einem anderen EU-Staat gibt, dann wäre nach dem Dublin-Verfahren dieser Staat zuständig. Wer einen Asylantrag gestellt hat, bekommt eine vorübergehende Aufenthaltsgenehmigung. Solange man in der Erstaufnahmeeinrichtung lebt, darf man sich nur in diesem Bezirk frei bewegen. Die syrische Familie, die nach Dortmund geschickt wurde, muss also zunächst dort bleiben.

Welche Rolle spielt das Herkunftsland?

Nicht jede Außenstelle des BAMF bearbeitet jedes Herkunftsland. Für Syrer gilt, dass ihre Anträge in allen Bundesländern bearbeitet werden. Aus Syrien kamen 2014 die meisten Menschen, die in Deutschland Asyl beantragt haben. Bis September waren es 24.800 von 136.000. Die Zahl der Asylanträge ist nach neun Monaten schon höher als im gesamten Jahr 2013. Neben Syrien stammen die meisten Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen aus Serbien, Eritrea, Afghanistan, Irak, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina.

Jeder Asylbewerber hat das Recht auf eine persönliche Anhörung mit einem Dolmetscher und einer Prüfung seiner individuellen Fluchtgründe. Manche Anträge werden aber schneller entschieden als andere. Das gelte für Mazedonien, Serbien und Bosnien-Herzegowina, die künftig als "sichere Herkunftsländer" eingestuft werden, sagte BAMF-Chef Manfred Schmidt dem Evangelischen Pressedienst: "Rund 50 Entscheider kümmern sich seit Oktober nur um den Westbalkan. Wir haben bei diesen drei Ländern eine Anerkennungsquote zwischen 0,1 und 0,3 Prozent." Wer nicht als Flüchtling anerkannt wird und keinen anderen Schutzstatus bekommt, der die Abschiebung verhindert, muss Deutschland verlassen.

Manfred Schmidt Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
Manfred Schmidt, Chef des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF)Bild: Geiger

Es gibt jedoch einen großen Stau bei Asylverfahren, mehr als 100.000 Fälle sind offen. Die durchschnittliche Bearbeitungszeit der Verfahren liege bei knapp sieben Monaten, berichtet Schmidt: "Für die Bearbeitung von syrischen Flüchtlingen brauchen wir 4,7 Monate, bei afghanischen sind wir bei 13 Monaten." Bei Kriegs- und Krisenländern ist die Anerkennungsquote besonders hoch. Flüchtlinge aus Syrien durften zuletzt in neun von zehn Fällen in Deutschland bleiben. Insgesamt dürfe etwa jeder zweite Asylbewerber in Deutschland bleiben, über dessen Antrag das BAMF inhaltlich entscheide, sagt Bernd Mesovic von Pro Asyl im DW-Interview.

Wo verbringen Asylbewerber die Wartezeit?

Verteilt werden Asylbewerber mit Hilfe des Systems "EASY" (Erstverteilung von Asylbegehrenden). Man richtet sich nach freien Plätzen in Erstaufnahmeeinrichtungen, die derzeit in einigen Städten wie München extrem überfüllt sind, und den Aufnahmequoten der Bundesländer. Diese Quoten werden jedes Jahr nach Steuereinnahmen und Bevölkerungszahl berechnet. Das bevölkerungsreichste Bundesland Nordrhein-Westfalen nimmt mit 21 Prozent die meisten Asylbewerber auf, gefolgt von Bayern, der Stadtstaat Bremen und das Saarland die wenigsten.

Blick auf Raum für Flüchtlinge mit mehreren Etagenbetten (Foto: dpa)
Aufnahmestelle für Flüchtlinge im bayerischen ZirndorfBild: picture-alliance/dpa

Nach bis zu drei Monaten in der Erstaufnahmeeinrichtung verteilen die Bundesländer Asylsuchende auf Städte und Gemeinden. An diese Orte sind die Menschen aufgrund der sogenannten Pflicht zur "Wohnsitznahme" gebunden. Eigene Wünsche werden nur ausnahmsweise berücksichtigt, wenn Ehepartner oder minderjährige Kinder anderswo leben. Die Residenzpflicht, nach der Asylbewerber immer an einem Ort bleiben müssen, wurde mittlerweile zwar gelockert, allerdings darf keiner das Bundesland verlassen, dem er zugewiesen wurde.

Wie werden Asylbewerber untergebracht?

Alles ist möglich. Probleme wie zuletzt bei den Misshandlungen in Nordrhein-Westfalen gebe es tendenziell eher in Massenunterkünften, sagt Pro Asyl. In manchen Bundesländern lebe die große Mehrheit der Asylsuchenden in einer Privatwohnung, in anderen sei das nur jeder Dritte. Mesovic erläutert: "Die Alternative ist Lagerunterbringung, da liegt NRW etwa in der Mitte. Auf der Positivseite wären Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein zu nennen und die rote Laterne in dem Bereich trägt Baden-Württemberg." Pro Asyl hat dazu ein Gutachten erstellt und Kriterien für eine gute Unterbringung entwickelt. Bisher entscheidet jedes Bundesland für sich, oft von Ort zu Ort unterschiedlich. Viele Städte fühlen sich überfordert und greifen auf Provisorien in Containern oder Zelten zurück.

Drei Flüchtlinge stehen vor der beschädigten Fassade eines Hauses (Foto: Reuters)
Flüchtlingsheim in Burbach - hier sollen Wachleute Asylbewerber misshandelt haben sollenBild: Reuters/Wolfgang Rattay

Wie werden Asylbewerber versorgt?

"Einheitliche Mindestqualitätsstandards" hat Ulrich Maly gefordert, der Präsident des deutschen Städtetags. Städte und Gemeinden seien in der Pflicht, sich um die Menschen zu kümmern. Neben "hell, trocken, warm und satt" müsse geklärt werden, wie Krankenbehandlung, Schulbesuch, soziale Betreuung oder der Umgang mit traumatisierten Menschen erfolgen soll. Pro Asyl sieht das genauso und fordert, das Asylbewerberleistungsgesetz abzuschaffen. Dieses Spezialgesetz gesteht Asylsuchenden weniger existenzsichernde Leistungen zu als inländischen Hartz-IV-Empfängern. Das Bundesverfassungsgericht hat schon vor zwei Jahren eine Neuregelung und mehr Geld für Asylbewerber verlangt. Von der Regel, die Flüchtlinge nur mit Sachspenden und Gutscheinen zu versorgen, sind viele Bundesländer schon abgerückt. Würde das Spezialgesetz ganz fallen, käme das auch der Gesundheitsversorgung zugute.

Was gilt im Krankheitsfall?

Bei "akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen" soll Asylbewerbern geholfen werden, heißt es im Asylbewerberleistungsgesetz. Mancher Kranke muss erst zum Sozialamt fahren, um einen Krankenschein zu bekommen. Wachleute lehnten nachts ab, einen Arzt zu rufen, obwohl es massive Krankheitssymptome gab, berichtet Bernd Mesovic von Pro Asyl: "Das hat in einigen Fällen Leben gefährdet. Es gibt Fälle, wo im Raum steht, dass Menschen deswegen zu Tode gekommen sind."

Porträt Bernd Mesovic (Foto: Pro Asyl)
Bernd Mesovic von Pro AsylBild: Pro Asyl

Es sei eine "irrwitzige Regel", wenn Menschen ohne medizinischen Sachverstand entschieden, ob eine Behandlung nötig sei. Hier gibt es erste Reformen: Bremen hat als erstes Bundesland Krankenversicherungskarten an Flüchtlinge ausgegeben, andere Länder ziehen nach. Sorge macht Hilfsorganisationen, dass durch Krieg, Folter und Flucht traumatisierte Flüchtlinge oft nicht erkannt werden und es zu wenig Behandlungsmöglichkeiten gibt.

Stichwort Integration: Gibt es Sprachkurse und Arbeitsmöglichkeiten?

"Wir sind erst am Anfang der Reformen", betont die Integrationsministerin von Baden-Württemberg Bilkay Öney in Stuttgart. Es reiche nicht, dass jetzt beschlossen wurde, das Arbeitsverbot für Flüchtlinge auf drei Monate zu verkürzen, wenn die Menschen nicht gleichzeitig Sprachförderung und Qualifizierungsmaßnahmen erhielten. Beides aber gibt es in Deutschland bisher nur in Modellprojekten für Asylbewerber. 30 Prozent der Flüchtlinge, so schätzt Öney, wären von ihrer Ausbildung her in der Lage, als Fachkraft in Deutschland zu arbeiten.

Zwei Asylbewerber sitzen vor einem Berater der Arbeitsagentur (Foto: DW)
Arbeitsmarkt-Förderung für Asylbewerber in einem Modellprojekt in KölnBild: DW/A. Grunau

Bisher aber bekommen Asylsuchende wie die syrische Familie aus dem Nachtzug nur dann eine frühe Unterstützung, wenn ehrenamtliche Initiativen Deutschunterricht geben oder die Kinder beim Lernen unterstützen. "Die Hilfsbereitschaft ist enorm", sagt BAMF-Präsident Manfred Schmidt. Eine Willkommenskultur in der Bevölkerung beobachtet auch Bernd Mesovic von Pro Asyl: "Ich habe das selten so erlebt in den letzten 30 Jahren, ganz anders als oft der Tenor der offiziellen Politik ist."