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Ciulli, süchtig nach Theater

Klaudia Prevezanos20. November 2013

Roberto Ciulli, Intendant des Theaters an der Ruhr, das er selbst mit gegründet hat, gilt als Kosmopolit. Sein Ensemble hat bereits mit Gruppen aus aller Welt zusammen gearbeitet. Er selbst sieht sich als Clown.

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Porträtfotos von Roberto Ciulli Foto: Harald Hoffmann
Bild: Harald Hoffmann

DW: Warum sind Sie 1965 nach Deutschland gekommen?

Roberto Ciulli: Das ist eine komplexe Frage. Hintergrund ist, dass ich damals nach einer ziemlich schweren Krankheit eine grundsätzliche Änderung in mein Leben bringen wollte. Deswegen bin ich aus Mailand und Italien ausgewandert.

Sie haben 1980 zusammen mit dem Dramaturgen Helmut Schäfer und der Stadt Mülheim das Theater an der Ruhr (TAR) gegründet: Was hat Ihnen an den anderen Theatern in Deutschland gefehlt?

Meine Erfahrungen, die ich vor allem in den 1970er Jahren an deutschen Stadttheatern gemacht habe, waren alle eigentlich negativ. Ich habe erlebt, dass der künstlerische Prozess, der für mich eigentlich der Sinn eines Theaters ist, immer mehr zu kurz kam. Das war einer der wesentlichen Gründe für die Gründung des TAR: Der Versuch, eine neue Struktur zu schaffen, die die Kunst ins Zentrum stellt. Hinzu kam die Frage, was für ein Theater man machen will. Ich hatte festgestellt, dass die anderen Häuser eine sehr traditionelle Theaterkunst boten. Die aber verhinderte, dass der Blick der Moderne, der in anderen Künsten bereits präsent war - in der Malerei, in der Musik - sich auch im Theater durchsetzte. Der Blick der Moderne vertritt, verkürzt gesagt, die Auffassung, dass die Realität nicht genau das ist, was wir sehen. Aber vielleicht verbirgt sich hinter dieser Realität eine andere Realität. Und darum muss beispielsweise eine Frau drei Nasen haben. Oder eine Pfeife ist keine Pfeife, sondern ein Fahrrad. Diese Auffassung von der surrealen Welt durchzusetzen, auch für ein traditionelles Publikum, das im Theater lieber sieht, was es kennt, war ein weiterer Grund ein eigenes Theater zu gründen.

Für das TAR ist die Idee des Reisens zentral: Warum?

Ich glaube, das Reisen ist für das Theater eine notwendige Entscheidung, und vielleicht auch die wichtigste Metapher für das Leben. Man könnte es wie eine lange Reise definieren, auf der wir auf der Suche nach uns selber sind. Man muss aber auch sagen, dass wir am Anfang im TAR mit unseren Aufführungen nicht immer auf die Liebe des Publikums gestoßen sind. Wir hatten den Eindruck, große Teile verstehen uns nicht, wir fühlten uns wie Fremde im eigenen Land. So entstand die Idee ins Ausland zu fahren und uns auf die Suche nach Theatergruppen zu machen, denen es ähnlich erging. Es kam zur ersten Reise nach Jugoslawien, und obwohl wir in deutscher Sprache spielten, verstand uns das Publikum. Das hat uns Kraft gegeben, in Deutschland weiterzumachen. Nach Jugoslawien folgten Polen, Russland, die Türkei, Usbekistan, Kirgistan, der Iran, der arabische Raum. Daraus ist die internationale Arbeit entstanden als wichtiges Thema am Theater an der Ruhr.

Sie sind in Italien geboren, und leben nun seit fast 50 Jahren in Deutschland: Wo ist Ihre Heimat?

Ich habe Schwierigkeiten mit dem Begriff Heimat und was man darunter versteht. Meine Heimat ist nicht Italien oder Deutschland oder jetzt Mülheim. Ich glaube geographisch braucht man keine Heimat, so wie es unwichtig ist, einen Pass zu haben, damit er etwas über einen Menschen sagt. Der Mensch ist ein Produkt von sehr Vielem: von verschiedenen Begegnungen, Kulturen, von den Büchern, die man gelesen hat. Und ich, der ich ein privilegierter Emigrant bin, weil ich das Glück hatte mich mit den Werken von Kleist, Büchner, Tschechow oder Lorca beschäftigen zu können, bin das Produkt von all dem. Ich habe aber eine sprachliche Heimat gefunden - im Deutschen. Und meine Heimat ist das Theater an der Ruhr.

Sie haben einem Roma-Theater eine Bühne geboten, es gab und gibt künstlerische Kooperationen mit dem Irak, dem ehemaligen Jugoslawien, Südafrika, Afghanistan. Sind Sie ein Robin Hood des deutschen Theaters, der Minderheiten, Aufbegehrenden und Benachteiligten eine Bühne bietet?

Man braucht kein Held zu sein, um sich heutzutage für Emigranten, Roma, Flüchtlinge oder andere Gruppen einzusetzen. Es ist nicht mal ein besonderes Bildungsniveau oder hohe Intelligenz nötig, um sich dafür zu entscheiden. Es sollte selbstverständlich sein.

Sie werden Theaterkosmopolit, Altmeister oder Kenner des deutschen Theaters genannt: Wie sehen Sie sich selbst?

Von Anfang an als Clown. Ein Clown ist jemand, der sich immer in einer fremden, verkehrten Welt befindet, und versucht, darin zu leben. Und er schafft es auch, die Menschen davon zu überzeugen, dass es eine andere Welt gibt. Bei mir hat das schon in der Kindheit damit angefangen, dass ich als Rothaariger geboren wurde - in einer Familie mit lauter Schwarzhaarigen. Ich habe von Beginn an festgestellt, dass ich nicht dazu gehöre, und versucht, mir eine andere Welt zu schaffen.

Wenn Sie Produktionen aus Algerien, der Türkei oder Burkina Faso nach Mülheim holen, was steht dann Vordergrund?

Im Vordergrund steht, dass das deutsche Publikum die Begegnung mit dem Anderen hat. Ich glaube, eine Kultur zeichnet sich durch die Bereitschaft aus, sich zu öffnen für den Blick der Anderen. Es ist gut, dass die Menschen den Mut haben, sich mit dem Blick der Anderen auf uns zu konfrontieren. Aber auch mit einer Sprache und Kultur, die sie nicht kennen. Sie werden dabei vielleicht entdecken, dass das, was sie nicht kennen, dem sehr nahe ist, was sie in sich tragen, das aber aus bestimmten Gründen nie rausgekommen ist. Und sie werden vielleicht erkennen, dass der nächste Mensch eigentlich ein absolut Fremder, und der Fremde uns vielleicht am nächsten ist. Der kulturelle Austausch über Grenzen hinweg ist meiner Meinung nach die Seele der Kultur.

Haben Sie noch eine andere Leidenschaft als das Theater?

Ich spiele sehr gerne Glücksspiele, wobei ich kein Spielsüchtiger bin. Aber hätte ich nicht das Theater, wäre ich wahrscheinlich einer geworden, wie viele in meiner Familie. Wenn es diese Leidenschaft für das Theater nicht gäbe, nach dem ich wirklich süchtig bin wie nach einer Droge, hätte mich wahrscheinlich die andere Leidenschaft gepackt.

Am 1. April 2014 werden Sie 80 Jahre alt: Wann haben Sie zuletzt daran gedacht, mit der Theaterarbeit aufzuhören?

Was heißt aufhören? Ich weiß, dass es irgendwann aufhören wird. Aber derzeit ist das überhaupt kein Thema.

Der Regisseur und Theaterintendant Roberto Ciulli wurde 1934 im italienischen Mailand geboren. Er wuchs in einer großbürgerlichen, streng katholischen Fabrikantenfamilie auf. Ciulli studierte in Italien Philosophie und promovierte über den deutschen Philosophen Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Bereits in Mailand gründete er 1962 das Theater "Il Globo". 1965 ging er nach Deutschland und arbeitete zunächst unter anderem als LKW-Fahrer. Ende der 1960er Jahre machte er mit der Theaterarbeit weiter: In Göttingen, Köln, Berlin und Düsseldorf. 1980 gründete Ciulli zusammen mit dem Dramaturgen Helmut Schäfer, dem Bühnenbildner Gralf-Edzard Habben und der nordrhein-westfälischen Stadt Mülheim das Theater an der Ruhr (TAR). Ciulli hat schon zahlreiche Auszeichnungen erhalten, am 20. November 2013 wurde ihm der NRW-Staatspreis verliehen.

Die Fragen stellte Klaudia Prevezanos