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Chronist der chinesischen Unterschicht

Mathias Bölinger15. Oktober 2012

Liao Yiwu hat den Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2012 erhalten. Der Autor, der im Exil in Deutschland lebt, zerrt die dunkelste Seite Chinas ans Licht und verleiht denen eine Stimme, die keine haben.

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Der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu (Foto: Lin Yuli)
Preisträger Liao YiwuBild: Lin Yuli

Als 1989 die Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens begannen, war Liao Yiwu wütend. Seine Wut galt weder der Regierung noch der Korruption, die protestierende Menschenmassen auf die Straße trieb, noch der politischen Repression. Seine Wut galt den "Obskuren Dichtern", einer Gruppe von Avantgarde-Poeten. Auf einem Treffen von Untergrundliteraten hatten sie die Dichtergruppe, der er angehörte, ausgebootet. Wütend reiste er in seine Heimatprovinz zurück, trieb sich bei Freunden rum, während in Peking die Ereignisse ihren Lauf nahmen.

"Knallt sie ab! Knallt sie ab!"

Dann erreichte ihn am 3. Juni 1989 die Nachricht, dass die Panzer auf Peking zurollten. Unter dem Eindruck der sich anbahnenden Ereignisse schrieb er ein Gedicht. "Massaker" nimmt voller Furor und Sarkasmus die Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens vorweg. "Schießt! Schießt! Auf die Alten, die Kinder, schießt auf die Frauen! Auf die Studenten, auf die Arbeiter, auf die Lehrer, schießt auf die Straßenhändler! Knallt sie ab! Knallt Sie ab! (...) Wahllos knallt sie ab. Wie schön die Gesichter in der schäumenden Flut."

Das Gedicht entstand, so schreibt er es in seinen Erinnerungen, in der Nacht zum 4. Juni in der zentralchinesischen Provinz Sichuan, tausende Kilometer von Peking entfernt. Wenige Stunden später eröffneten die Panzer tatsächlich das Feuer auf die Menschen - eine Gewaltphantasie, die von der Realität eingeholt wurde. Vier Jahre "Umerziehung durch Arbeit" hat Liao Yiwu der Text eingebracht - Lagerhaft mit schwerer Körperlicher Arbeit. Danach schrieb er keine Gedichte mehr. "Im Arbeitslager wurde ich tatsächlich umerzogen", sagt er, "ich wurde vom Dichter zum Chronisten, zum Aufnahmegerät meiner Epoche."

Yiwu hat nur noch wenig mit dem Avantgarde-Dichter gemein, der er vor diesem Gedicht war. Nach seiner Gefängniszeit wurde er zu einem Beobachter und Chronisten. Er schrieb die Geschichten von Menschen auf, die er traf - Menschen, die in der chinesischen Gesellschaft ganz unten standen: Prostituierte, Häftlinge, Kloputzer oder Leichenschminker. Er selbst war ja jetzt einer von ihnen. "Es war nicht schwierig, die Leute zum Reden zu bringen", sagt er, "ich hatte im Gefängnis gesessen und war zweimal geschieden. In ihren Augen stand ich noch tiefer als sie."

Buchcover "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" (Foto: DW)
Buchcover "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser"

Unvorstellbare Hölle

Einige dieser Geschichten sind in dem Buch "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" erschienen, das 2009 auch in deutscher Sprache auf den Markt kam. Im vergangenen Jahr erschien dann das Buch, das er selbst als sein Hauptwerk bezeichnet. "Für ein Lied und Hundert Lieder" beschreibt seine Erlebnisse im Gefängnis. Es ist ein Mammutwerk, eine schwer erträgliche Klageschrift auf 500 Seiten. Niemand hat bisher so detailliert aus chinesischen Gefängnissen berichtet. Der Sadismus der Wärter und die Grausamkeit der Häftlinge untereinander bilden zusammen eine unvorstellbare Hölle. Schonungslos wird beschrieben, was sie antun - etwa wenn Neuankömmlingen ölgetränkte Baumwollstreifen auf dem Rücken angezündet werden oder sie gezwungen werden, sich gegenseitig in die Hoden zu beißen und dabei wie Hühner mit den Armen zu schlagen.

Bevor das Buch erscheinen konnte, floh er nach Deutschland. Die chinesischen Behörden hatten ihm unmissverständlich gedroht, dass er wieder ins Gefängnis kommen würde, sollte er das Buch im Ausland publizieren. Das Manuskript hatten sie bereits zweimal konfisziert. Er hat es jedes Mal neu geschrieben, obwohl er immer wieder eine erneute Verhaftung fürchten musste. "Natürlich ist es schrecklich, wenn Du Angst haben musst, für deine Werke ins Gefängnis zu kommen", sagt er, "aber die größere Angst ist es, vergessen zu werden. Wenn Du aufhörst zu schreiben, dann waren all die Jahre im Arbeitlager vergeblich. Dann hast Du umsonst gelebt."

Erinnern an die "Rowdys"

In seinem neuen Buch "Die Kugel und das Opium" kehrt er zurück zum Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989. Erneut verleiht er denen eine Stimme, die in China vergessen wurden. Über die Jahre hat Liao Opfer des 4. Juni interviewt. Diese Gespräche erscheinen nun in diesem Band. Aber es sind nicht die Studentenführer und Intellektuellen, die hier zu Wort kommen, sondern einfache Bürger, die damals zur Stelle waren, um sich den Panzern in den Weg zu stellen. Zu Tausenden ließ das Regime sie hinterher als "Rowdys" verurteilen - viele zum Tod, andere zu jahrelanger Lagerhaft. Sie wurden meist härter bestraft als die Studenten und Intellektuellen, die den Protest begonnen hatten.

Panzer rollen auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking, davor ein Mann (Archivfoto: AP)
Liao: "Die Zeit ist reif, sich an sie zu erinnern"Bild: AP

Später hat man diese Menschen einfach vergessen. Von Tausenden Artikeln, die über das Massaker im Ausland oder im chinesischen Internet erschienen seien, könne er sich nur an zwei oder drei erinnern, in denen diese Menschen überhaupt erwähnt seien, stellt Liao Yiwu fest. "Dabei haben die einfachen Leute damals die Hauptlast getragen. Die Zeit ist reif, sich an sie zu erinnern."

"Dieses Imperium muss auseinanderbrechen"

Liao Yiwu hat am Sonntag (14.10.2012) den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche entgegengenommen. Er warf in seiner aus dem Chinesischen übersetzten Rede unter anderem dem Westen vor, unter dem Deckmantel des freien Handels "mit den Henkern gemeinsame Sache" zu machen. Es sei ein Irrtum zu glauben, dass der wirtschaftliche Aufschwung Chinas zwangsläufig zu Reformen führe.

"Dieses Imperium muss auseinanderbrechen", sagte der Schriftsteller über sein Heimatland. Das Wertesystem des chinesischen Staates sei längst kollabiert und werde nur noch von der Profitgier der Mächtigen zusammen gehalten. "Eine Dynastie, die Kinder tötet, deren Tage sind gezählt."