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Theater für russisches Drama ruft zum Frieden auf

Roman Goncharenko6. März 2014

Die meisten Menschen in Charkiw wollen Ruhe. Doch in der ostukrainischen Metropole gab es bereits gewaltsame Proteste gegen die neue Regierung. Die Stimmung nahe der russischen Grenze ist aufgeheizt.

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Polizei vor Gebietsverwaltung in Charkiw (Foto: DW)
Bild: DW/R. Goncharenko

Sie weht wieder - die blau-gelbe ukrainische Fahne auf dem Dach der Gebietsverwaltung im ostukrainischen Charkiw. Den Eingang zum Gebäude versperren ein Dutzend Polizisten in voller Kampfmontur. Im Innenhof und entlang des gegenüberliegenden Freiheitsplatzes trifft man auf hunderte Sicherheitskräfte. Sie sitzen in Bussen oder stehen am Straßenrand. Die neue Gebietsverwaltung zeigt Stärke.

Ihor Baluta, 43, ein studierter Kinderarzt braucht jetzt den Schutz der Polizei. Am Tag zuvor hat er als neuer Chef der Gebietsverwaltung in der ostukrainischen Region die Amtsgeschäfte übernommen. Zuvor saß Baluta im Gebietsrat für die oppositionelle Vaterlandspartei der ehemaligen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko. Nach dem Machtwechsel in Kiew haben ehemalige Timoschenko-Leute die wichtigsten Posten in der Ukraine übernommen.

Gewalt prorussischer Demonstranten

Mit 1,5 Millionen Einwohner ist Charkiw die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Sie ist seit ihrer Gründung vor 360 Jahren stark russisch geprägt. Die russische Grenze liegt nur rund 40 Kilometer entfernt. Russisch ist die Muttersprache der meisten Bewohner. Zu Sowjetzeiten war Charkiw unter anderem ein Zentrum der Rüstungsindustrie. Heute kämpfen die meisten Betriebe ums Überleben.

Der neue Gebietsgouverneur Baluta kann sich in Charkiw nicht sicher fühlen, weil die Stadt - anders als Kiew - keine Hochburg der prowestlichen Kräfte ist. Viele haben hier bis vor kurzem den gestürzten Präsidenten Viktor Janukowitsch und seine Partei der Regionen unterstützt. Doch als Janukowitsch von Kiew nach Charkiw flüchtete, gingen dennoch kaum Leute auf die Straße, um ihm beizustehen. Seine Politik hat die Menschen offenbar enttäuscht.

Vor wenigen Tagen dann verprügelten tausende radikale Demonstranten die zahlenmäßig deutlich unterlegenen Anhänger der neuen Führung in Kiew. Die Gebietsverwaltung wurde gestürmt und eine russische Fahne am Dach befestigt. Es gab viele Verletzte. Nach Berichten ukrainischer Medien soll zumindest ein Teil der Demonstranten mit Bussen aus Russland angereist sein.

Kommunisten demonstrieren in Charkiw gegen neue Führung in Kiew (Foto: DW)
Einige Menschen in Charkiw demonstrieren gegen die neue Führung in KiewBild: DW/R. Goncharenko

Aufgeladene Stimmung in der Stadtmitte

Inzwischen ist alles ruhig. Es gibt nur einzelne Demonstrationen gegen die neue Macht in Kiew und ihre Anhänger. Ein halbes Dutzend Rentner steht am Rande des Freiheitsplatzes. Sie nennen sich "Charkiwer Widerstand" und suchen freiwillige Aktivisten. Viel Zulauf haben die Protestler nicht. Die meisten Passanten gehen an den Gegnern von Ihor Baluta vorbei, ohne sie anzuschauen.

Die Stimmung ist aufgeladen. Mit einem Journalisten aus Deutschland wollen sie zunächst nicht sprechen. "Verschwinden Sie, ihr im Westen seid doch alle Lügner", schimpft eine Frau mit Hass verzerrtem Gesicht. Nur langsam kommt man mit den Demonstranten ins Gespräch. "Wir akzeptieren die neue Regierung und den Interimspräsidenten in Kiew nicht", sagt ein älterer Mann. "Das sind doch alles Faschisten und Nationalisten." Gemeint sind damit Rechtspopulisten aus der Westukraine. Dass sie bei der Protestbewegung gegen Janukowitsch in Kiew und anderen Städten eine Minderheit darstellten, interessiert den Mann nicht. Auch die neue Gebietsverwaltung in Charkiw sei nicht legitim, sagt er.

Keine Angst vor Krieg mit Russland

Ähnlich sehen das ein paar Frauen, die hundert Meter weiter, an einem Lenindenkmal stehen. Dort haben ukrainische Kommunisten ein Zelt aufgebaut. Sie werben für eine Annäherung an Russland. "Wir wollen nicht nach Europa", schreit eine ältere Dame. "Ihr Europäer wollt unsere Kinder zwingen, mit vier Jahren Sexualunterricht zu haben". Sie ist sehr aufgebracht, meint es aber ernst.

Russland habe auf der Krim alles richtig gemacht, sagen die Frauen. An einen Krieg zwischen Ukraine und Russland glauben sie nicht. Auch Andrij, ein Mann Mitte 30, glaubt nicht an einen Einmarsch russischer Truppen in Charkiw. Er stellt sich als einer der Organisatoren der Proteste vor. An seinem rechten Arm trägt er eine Schleife mit orangefarbenen und schwarzen Streifen. Mit solchen "Sankt-Georgs-Bändern" schmücken sich vor allem Menschen in Russland, die sich als Patrioten bezeichnen. Es ist ein bekanntes Symbol für militärische Tapferkeit in Russland. Andrij möchte allerdings nicht, dass sich Charkiw von der Ukraine abspaltet und ein Teil Russlands wird. "Wir wollen mehr Autonomie", sagt er. Die Ukraine solle ein föderaler Staat werden.

Eine Friedensbotschaft aus dem russischen Theater

Das sind Stimmen von einzelnen Aktivisten. Denn die meisten Menschen in Charkiw denken wie diese zwei Physikstudentinnen an der Karasin-Universität, die auch am Freiheitsplatz stehen. "Wir interessieren uns nicht besonders für Politik", sagen sie. Politiker seien doch alle korrupt. "Europa will die Ukraine nicht aufnehmen, Russland schon", sagt die junge Frau. Sie möchte aber, dass die Ukraine mit beiden Seiten gute und freundschaftliche Beziehungen hat.

Anatoli Kubanzew: Art-Direktor des Schauspielhause in Charkiw (Foto: DW)
Anatoli Kubanzew: Ruft zu Frieden aufBild: DW/R. Goncharenko

Mit einer ähnlichen Botschaft wandte sich das Charkiwer Theater für russisches Drama an sein Publikum. "Wir wollen Frieden", sagten Schauspieler in einer Videobotschaft. Das sei ein sehr ungewöhnlicher Schritt für das traditionsreiche Schauspielhaus, räumt der Art-Direktor Anatoli Kubanzew in einem Gespräch mit der Deutschen Welle ein. "Wir glauben, dass es Kräfte gibt, die die Ukraine gerne schwach oder sogar zerrissen in Stücke sehen möchten", sagt Kubanzew. Er und seine Schauspieler appellieren deshalb an alle Menschen in Charkiw, den bisher herrschenden Frieden zu erhalten und Ruhe zu bewahren