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Gleiche Chancen von Anfang an

Martin Koch20. Februar 2013

Die Vereinten Nationen haben den 20. Februar zum "Welttag für soziale Gerechtigkeit" erklärt. Für viele Deutsche steht dabei vor allem ein Aspekt im Mittelpunkt: Bildung für alle.

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Kinder in einer Grundschule in München (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Die Sozialdemokraten wollen sie, die Freien Demokraten auch, ebenso die Christdemokraten - und die Grünen und die Linken sind erst recht dafür: "Soziale Gerechtigkeit" wird in den kommenden Monaten im Bundestagswahlkampf eine Schlüsselrolle in den Kampagnen von SPD, FDP, CDU/CSU, Linkspartei und Bündnis 90/Die Grünen spielen.

Es sieht so aus, als hätten die Parteien damit ihr Ohr am Puls der Zeit: Einer repräsentativen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach zufolge besteht für 71 Prozent der Deutschen im Blick auf soziale Gerechtigkeit eine Lücke, die sogar noch größer wird. Allerdings machen auch zwei Drittel der Bevölkerung die Politik für diese Ungerechtigkeiten verantwortlich.

Geld spielt (fast) keine Rolle

Im Unterschied zu vielen anderen Ländern der Welt geht es beim Thema soziale Gerechtigkeit in Deutschland jedoch offenbar nicht in erster Linie um die Verteilung von materiellen Gütern. Höhere Steuern auf Unternehmensgewinne, stärkere Belastung von Spitzenverdienern oder eine Vermögenssteuer werden laut Erhebung nur von der Hälfte der Befragten befürwortet.

Es sei gesellschaftlich auch akzeptiert, dass es ein Gefälle zwischen den sozialen Schichten gebe, sagt Hubertus Pellengahr, Geschäftsführer der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Die arbeitgebernahe Einrichtung hat die Umfrage beim Allensbach-Institut in Auftrag gegeben. Wichtiger sei der Bevölkerung etwas anderes, so Pellengahr im Gespräch mit der DW: "Für die Deutschen ist eine Gesellschaft erst dann gerecht, wenn alle Kinder die gleichen Bildungschancen haben. Das sagen 90 Prozent. Und hier gibt es auch den größten Handlungsbedarf in der Bundesrepublik."

Hubertus Pellengahr (Foto: dpa)
Hubertus Pellengahr: "Die Deutschen wollen Chancengerechtigkeit"Bild: picture-alliance/dpa

Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit wird vor der Bundestagswahl in jedem Wahlprogramm stehen. Allerdings interpretierten die jeweiligen Parteien den Begriff unterschiedlich, sagt der Soziologe Stefan Liebig von der Universität Bielefeld. Während zum Beispiel die Linke für eine Umverteilung von Einkommen und Wohlstand eintrete, setzten die anderen Parteien eher auf die Verbesserung der Chancengerechtigkeit. Liebig betont in diesem Zusammenhang, dass Ungleichheit nicht automatisch Ungerechtigkeit bedeutet: "Zur sozialen Gerechtigkeit gehört auch, dass Menschen für ihre Leistungen angemessen belohnt werden. Diese Belohnungsgerechtigkeit ist ein wichtiger Aspekt der sozialen Gerechtigkeit."

Dabei verweist er auf den Befund der Allensbach-Umfrage, dass 81 Prozent der Deutschen es befürworten, wenn unterschiedlich gute Leistungen unterschiedlich hoch honoriert werden. Wer am Arbeitsplatz viel leiste, im Sport über mehr Talente verfüge oder mehr Zeit und Anstrengungen in Aus- und Fortbildung investiere, dem stehe auch eine höhere Belohnung zu. Solche Ungleichheiten sind nach Ansicht des Wissenschaftlers motivierend, sie beförderten die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt.

Gerechtigkeit ist ein Gefühl

In den 1950er und 60er Jahren spielte die Verteilungsgerechtigkeit eine viel größere Rolle als heute. Damals sei der "zu verteilende Kuchen" größer gewesen und wegen des wirtschaftlichen Aufschwungs immer noch größer geworden, so Liebig. Heute dagegen komme es in viel stärkerem Maße darauf an, mit anderen zusammenzuarbeiten und dadurch von anderen abhängig zu sein. "Ich glaube, dass das Empfinden jedes Einzelnen, dass er in unserer Gesellschaft gerecht behandelt wird, zunehmend wichtiger wird, weil Ungerechtigkeit ein Signal für die einzelnen Menschen ist, dass andere sich auf ihre Kosten Vorteile verschaffen." Und es sei wissenschaftlich bewiesen, dass dieses Gefühl der Benachteiligung sehr konkrete Auswirkungen auf die Arbeitnehmer haben könne, indem sie sich zurückzögen und sich am Arbeitsplatz weniger engagierten: "Lang andauernde empfundene Ungerechtigkeiten führen auch dazu, dass die Menschen sowohl physische als auch psychische Krankheitssymptome entwickeln."

Stefan Liebig (Foto: Universität Bielefeld)
Stefan Liebig: "Ungerechtigkeit kann krank machen"Bild: Universität Bielefeld

Deshalb müssten die Unternehmen dafür sorgen, die Arbeitsbedingungen so gut wie möglich zu gestalten, sagt Hubertus Pellengahr von der INSM: "Es geht nicht nur um die Qualifizierung von jungen Menschen, es geht auch um das lebenslange Lernen, hier sind die Arbeitgeber aktiv, tun viel für die Bildung von Jugendlichen, für die Integration von Jugendlichen, für die Fort- und Weiterbildung."

Bildung für Gerechtigkeit

Wenn sich die deutsche Gesellschaft auf die Frage "Was ist gerecht?" dermaßen eindeutig für mehr Chancengerechtigkeit ausspricht, dann ist das ein deutliches Signal an die Politiker aller Parteien, die Bedingungen für Kinder und Familien zu verbessern. Der Zugang zu Bildung sei der Schlüssel zum gesellschaftlichen und damit auch wirtschaftlichen Erfolg, sagt INSM-Geschäftsführer Pellengahr: "Die Lösung liegt darin, benachteiligte Jugendliche besser zu fördern und zu integrieren, vor allem etwas zu tun für die frühkindliche Förderung, denn gerade Investitionen in kleine Kinder zahlen sich später aus." Denn gleiche Startchancen am Beginn des (Berufs-)Lebens verbesserten die Aussichten darauf, am Wohlstand Deutschlands teilzuhaben und würden damit automatisch für mehr Gerechtigkeit sorgen.