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Bundespräsident redet Tacheles

Kay-Alexander Scholz22. Mai 2014

Es sollte eine Grundsatzrede werden. Und in der Tat hat Bundespräsident Joachim Gauck so kurz vor der Europawahl das auch in Deutschland umstrittene Thema Zuwanderung mit klaren Worten und ohne Scheu rundum beleuchtet.

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Joachim Gauck bei der Einbürgerungsfeier im Schloss Bellevue (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Bundespräsident Joachim Gauck hat anlässlich einer feierlichen Einbürgerung von 23 Deutschen im Schloss Bellevue ein Gerüst zu der Frage entworfen, wie sich die deutsche Gesellschaft "besser auf das Zusammenleben der Verschiedenen einstellen kann".

Auf der einen Seite erinnerte Gauck an die Realität: An Menschen aus 190 Nationen, an das nun zweitbeliebteste Einwanderungsland Deutschland, an schon 16 Millionen Zugewanderte, vier Millionen Muslime und an viele prominente Migranten, die Buchpreisträger oder Regierungsmitglied sind. Andererseits erinnerte er auch an die mühevolle politische Begleitung der bundesdeutschen Migrationsgeschichte. "Einwanderung wurde zuerst ignoriert, dann abgelehnt, später ertragen und geduldet, schließlich als Chance erkannt und bejaht."

Appell: Keine Angst vor Problemen

Doch Gauck ging in seiner Rede weiter als zu dem Punkt, Vielfalt als Errungenschaft zu feiern - obwohl er dies in der Formulierung "Es gibt ein neues deutsches 'Wir', die Einheit der Verschiedenen" auch noch einmal neu formulierte. Er sprach ganz offen von Problemen wie "Ghettobildung, Jugendkriminalität, patriarchischen Weltbildern und Homophobie". Diese Probleme dürften nicht verschwiegen werden, weil die falsche Seite applaudieren könnte. Und anstatt zu streiten, welche Probleme "unzulässig dramatisiert oder verharmlost werden", sollte die Energie darauf verwendet werden, "Probleme zu lösen".

Drei Tage vor der Europawahl kann das auch als ein klarer Appell auch an die politische Kultur gesehen werden, achtsamer auf die Sorgen der Bürger einzugehen. Denn genau das ist ein Angriffspunkt für Populisten, die es in Deutschland mit der "Alternative für Deutschland" inzwischen auch gibt.

Joachim Gauck Einbürgerungsfeier im Schloss Bellevue mit Familie ais Bolivien (Foto: dpa)
Auch diese Familie, die ursprünglich aus Bolivien stammt, gehört nun zu DeutschlandBild: picture-alliance/dpa

Richtschnur Grundgesetz

Gauck nahm auf ein weiteres politisches Ereignis Bezug. Am Freitag wird der 65. Jahrestag des Grundgesetzes gefeiert. Die deutsche Verfassung sei "eine gute Richtschnur" für das Zusammenleben. Und das habe Konsequenzen. "Es darf keine mildernden Umstände geben für kulturelle Eigenarten, die unseren Gesetzen zuwiderlaufen". Die "Achtung vor der Würde des Einzelnen, Gleichberechtigung, Respekt vor Andersdenkenden und Anderslebenden: Auf diesen Werten und Normen beruht unsere Freiheit". Es müsse "Null Toleranz" gegenüber jenen geben, "die unseren gemeinsamen Grund der Verfassung verlassen".

Trotzdem sei Deutschland offen für Veränderungen, so Gauck. Denn "eine Einwanderungsgesellschaft ist immer eine Aushandlungsgesellschaft". Doch diese Veränderungen müssen in einem "demokratischen Prozess ausgehandelt werden". Das sei ihre "große Stärke".

Verlust der deutschen Kultur?

Gauck forderte also mehr Verfassungspatriotismus und -treue ein, ging dann aber ohne den Begriff zu erwähnen auch auf die vor einigen Jahren in Deutschland geführte Leitkultur-Debatte ein. Was deutsch sei, das sei nicht leicht zu fassen und verändere sich auch: "Tugenden, Bräuche, Lieder, Speisen, Klassiker der Literatur und Musik". Allerdings ging Gauck einen Schritt weiter und fügte eine Mahnung hinzu: "Wer seine eigenen kulturellen Werte gering schätzt, wird kaum von Anderen Respekt dafür enthalten". Und aus falsch verstandener Rücksicht sollten Weihnachtsfeiern nicht in "Jahresabschlussfeiern" umgetauft oder in Kindergärten auf Sankt-Martins-Umzüge verzichtet werden.

Gauck sprach sich dennoch dafür aus, Einwanderung aktiv zu steuern und klare gesetzliche Voraussetzungen für Zuwanderer zu schaffen. Denn "wir können nicht alle aufnehmen, die kommen möchten". Auch hier plädierte der Bundespräsident also für ein strikt pragmatisches Vorgehen. Die "Neubürger" hörten aufmerksam zu und nahmen ihre Einbürgerungsurkunden mit Stolz und Freude entgegen.