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Briefe aus dem Gulag

Cornelia Rabitz15. Dezember 2012

Der britische Historiker Orlando Figes verbindet Geschichte mit der Lebensgeschichte von Sweta und Lew, einem Paar, dessen Liebe Weltkrieg und Lagerleben überstand. Fast zehn Jahre waren Briefe ihre einzige Verbindung.

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Das Foto zeigt einen Blick auf das Arbeitslager Workuta 120 km noerdlich des Polarkreises, ab 1931 von Zwangsarbei tern gebaut. Wachturm und Wohnba- racken. - Foto, 1930er / 1940er Jahre. E: Vorkuta Gulag / Photo / 1930s/1940s
Bild: picture-alliance/akg

Im Jahre 2007 erreichten das Moskauer Büro der Menschenrechtsorganisation Memorial mehrere vollgepackte Truhen. Darin: Schriftstücke, Fotos, Notiz- und Tagebücher - der Nachlass eines Moskauer Ehepaares. In einem Extra-Karton befanden sich rund 1200 straff verschnürte und gebündelte, handgeschriebene Briefe, präzise numeriert und beschriftet, der erste vom Sommer 1946, der letzte vom Winter 1954. Ein unglaublicher Fund, wie sich bei näherer Prüfung herausstellte, handelte es sich doch um die komplette Korrespondenz zwischen einem Gulag-Häftling im Norden der Sowjetunion und seiner in Moskau lebenden Freundin. Für Memorial, die sich auch der Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit widmen, und den britischen Historiker Orlando Figes, der sich gerade zu einem Forschungsaufenthalt in der Metropole aufhielt, eine Sensation. Und der Auftakt zu einer umfangreichen Recherche, die schließlich in einem Buch mündete. Ein Buch über die Geschichte von Sweta und Lew.

Studentenliebe in Stalinzeiten

Sweta und Lew lernen sich im September 1935 kennen, sie sind 18 Jahre alt, studieren beide an der Physikalischen Fakultät, einer Elite-Institution, in der auch im Auftrag des sowjetischen Militär geforscht wird. Der Alltag im Moskau jener Zeit hält, nach wirtschaftlich schwierigen Zeiten, erste Erleichterungen und kleine Freuden bereit. Aber Stalin regiert das Land. Ideologische Konflikte überschatten die Arbeit am Institut, und insgeheim werden von den Helfern des Diktators bereits Verhaftungslisten vorbereitet. Zwei Jahre noch bis zum "Großen Terror", dem mindestens 1,3 Millionen so genannte "Volksfeinde" zum Opfer fallen werden. Darunter viele Wissenschaftler. Politische Wachsamkeit, ideologische Schulung und eine militärische Ausbildung gehören daher zum Programm von Elitestudenten wie Sweta und Lew. Die beiden werden ein Liebespaar, unzertrennlich. Noch vor Ende seines Studiums wird Lew in wissenschaftliche Projekte einbezogen, eine Universitäts-Karriere zeichnet sich ab. Im Juni 1941 hat er sein Diplom in der Tasche und bricht mit Kollegen zu einer Exkursion in den Kaukasus auf.

Dramatische Wende

Völlig überraschend erfolgt im selben Monat der Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion, ein wuchtiger Angriff, dem die überrumpelten sowjetischen Streitkräfte nahezu hilflos ausgeliefert sind. Lew meldet sich freiwillig an die Front. Nur wenige Male noch kann er nach Moskau kommen, um Sweta zu sehen. Wenig später ist er bereits in deutscher Kriegsgefangenschaft, wird in Hitlers Reich deportiert und zu Zwangsarbeiten eingesetzt. Der junge Physiker hatte an der Universität gut Deutsch gelernt und wird bald bei Dresden zur Tätigkeit als Übersetzer in einer großen Industriezone mit Gefangenenlagern gezwungen. Ein Fluchtversuch von dort misslingt, es folgt die erneute Inhaftierung und schließlich das Konzentrationslager Buchenwald. Im April 1945 wird Lew in einen der so genannten "Todesmärsche" gezwungen, er überlebt und wird nach Kriegsende in die sowjetische Besatzungszone zurückgeführt. Ein Angebot der Amerikaner, die ihm eine Stelle als Physiker in den USA offerieren, lehnt er ab. Er will Sweta und seine Familie wieder sehen.

Doch die Rückkehrer aus Deutschland werden von den sowjetischen Behörden keineswegs freundlich aufgenommen, im Gegenteil: Lew wird unter dem Vorwurf der Kollaboration mit den Deutschen inhaftiert und später wegen Hochverrat zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Das Verfahren dauert ganze zwanzig Minuten. Man deportiert ihn in den Norden der Sowjetunion, das Ziel heißt: Arbeitslager Petschora.

Das Bild zeigt den Studenten Lew, Protagonist im Buch von Orlando Figes "Schick einen Gruß zuweilen durch die Sterne" Copyright: Memorial/ Hanser-Verlag
Lew, als Student an der Moskauer UniversitätBild: Memorial/ Hanser-Verlag

Dort herrschen im Winter 45 Grad minus, der Fluss ist neun Monate im Jahr zugefroren. Die Häftlinge hausen in Baracken und müssen vom Morgengrauen an in Zwölf-Stunden-Schichten im Holzkombinat Schwerstarbeit leisten. Die Ernährung ist schlecht, es gibt Tee, dünnen Haferbrei und 600 Gramm Brot am Tag – bei Erfüllung der Norm. Lews physikalische Kenntnisse verhelfen ihm bald zu einer besseren Position, er wird dem Stromkraftwerk des Kombinats zugeteilt und arbeitet als Monteur in der "Elektrogruppe".

Schwieriger Alltag in Moskau

Sweta ahnt von alledem nichts. Sie hat die Bombardierung Moskaus erlebt, die Evakuierung der Universität, die Verlegung ihres Instituts nach Zentralasien, sie hat ihren Universitätsabschluss gemacht und arbeitet nun als Industriephysikerin in einem auch für die sowjetische Rüstungsindustrie wichtigen Testlabor. Dann ist der Krieg aus. Doch der Alltag in der Hauptstadt bleibt schwierig, Stalins Geheimpolizei und eine umfassende Bürokratie setzen die Menschen unter Druck, Lebensmittel sind rationiert, Wohnraum schwer zu bekommen. Sweta hat inzwischen alle Hoffnung aufgegeben, Lew je wiederzusehen. Plötzlich erfährt sie über Umwege, dass ihr Freund noch am Leben ist.

Am 12. Juli 1946 schreibt Sweta ihren ersten Brief in das Lager Petschora. Lew antwortet ihr am 9. August. Eine fast zehn Jahre dauernde Korrespondenz beginnt. Sweta schickt nicht nur Briefe, sondern auch Päckchen mit Medikamenten, Lebensmitteln, Büchern – obwohl auch hier, wie überall im Gulag, strenge Zensur herrscht. Das junge Paar hat Glück, es gibt Helfer, die die Briefe hinein- und herausschmuggeln, denn das Straflager ist von einem Industriekomplex umgeben, in dem so genannte "freie Arbeiter" beschäftigt sind. Hier finden sich Menschen, die Lew und Sweta helfen.

Geschmuggelte Briefe

Es sind bewegende, zum Teil erschütternde Briefe, die Orlando Figes in seinem neuen Buch dokumentiert, nicht weil sie voller Dramatik wären, im Gegenteil: Die Liebenden wägen ihre Worte, formulieren sehr vorsichtig, benutzen häufig Umschreibungen oder Codewörter - ihre geheime Korrespondenz ist für beide sehr gefährlich. Lew beschreibt die Probleme des erzwungenen Lagerlebens, Kälte und Abgeschiedenheit, die Demütigungen, aber auch Freundschaften, die in Petschora entstehen.

Das Bild zeigt Sweta, Protagonistin in Orlando Figes Buch "Schick einen Gruß zuweilen durch die Sterne" Copyright: Memorial/ Hanser-Verlag
Studentin Sweta, 18 Jahre altBild: Memorial/ Hanser-Verlag

Man spürt, dass Lew häufig ein eher beruhigendes Bild der Lage zeichnet. Sweta berichtet über ihre Arbeit, den Alltag in Moskau, ihre Familie, sehnsuchtsvoll, manchmal – aber ohne Sentimentalität. “Diese Briefe sind nichts anderes als Briefe voller Liebe, obwohl das Wort 'Liebe' nur selten auftaucht. Sie sind geschrieben, um Lew Mut zu machen, seinen Lebenswillen zu erhalten, ihm Hoffnung zu geben. Denn diese Hoffnung hält Lew am Leben“, sagt Autor Orlando Figes anlässlich einer Lesung in Berlin: "Es ist viel Selbstzensur in den Briefen, aus Angst, aus Vorsicht, sie wollen sich nicht belasten, schützen sich gegenseitig – sie wissen ja nicht, ob sie sich je wiedersehen".

Geheime Reisen und neue Hoffnung

Vier Mal in den zehn Jahren gelingt das Unwahrscheinliche: Sweta nutzt ihre Dienstreisen und fährt, ohne Erlaubnis, auf abenteuerlichen Wegen nach Petschora. Es sind erschöpfende, tagelange Fahrten in überfüllten Zügen, illegal, ohne die notwendigen Papiere und beladen mit schwerem Gepäck. "Etwas Ungeheuerliches unter den damaligen Umständen und sehr gefährlich", sagt der Historiker. Ermöglicht wird auch dies nicht nur durch den außerordentlichen Mut der jungen Frau, sondern praktisch auch durch die selbstlose Hilfe von Menschen in der "freien Zone". Vier Mal kann Sweta Lew treffen, es sind schmerzvolle, schwierige Begegnungen.

Mit Stalins Tod 1953 wächst bei den Gulag-Häftlingen die Hoffnung auf eine Amnestie. Lew aber muss sich gedulden. Als es endlich so weit ist, stellen sich neue, quälende Fragen – auch im Briefwechsel der beiden. Wo würde er wohnen? Wo arbeiten? Moskau bleibt ihm versperrt. Für die ehemaligen Gefangenen ist die sowjetische Hauptstadt tabu. Bürokratische Prozeduren machen die Wiedereingliederung, die Wohnungs- und Arbeitssuche in der Provinz schwierig. Das Paar würde, nach all den Jahren der Trennung, nicht zusammen leben können. Am 17. Juli 1954 wird Lew entlassen. Man hat ihm wegen guter Führung ein paar Monate geschenkt.

Lew hat, nach Monaten in einem Dorf, noch einmal Glück. Er bekommt über Bekannte in Moskau einen Job als Übersetzer fremdsprachiger Texte. Zunächst transportiert Sweta die Texte und Übersetzungen hin und her. Ende 1954 hält er sich dauerhaft - und illegal - bei Sweta und ihrer Familie in der Hauptstadt auf. Wieder ein gefährliches Unterfangen: Wird er entdeckt, so droht unweigerlich erneut das Straflager. 1955, im Zusammenhang mit dem Besuch des deutschen Kanzlers Adenauer, wird eine Amnestie für Soldaten ausgerufen, denen man Kollaboration mit den Deutschen vorgeworfen hatte. Ein wichtiger Schritt für Lew. Im September desselben Jahres heiraten er und Sweta. Sie sind nun 38 Jahre alt. Gut ein Jahr danach wird ihre Tochter Anastasia geboren, 1957 Sohn Nikita. Die Ehe des leidgeprüften Paares hält bis zum Tod. Lew stirbt 2008, Sweta 2010.

Das Foto zeigt einen Brief von Sweta an Lew; Copyright: Hanser Verlag
Ein Brief von Sweta an LewBild: Hanser Verlag

Geschichte und Literatur

Orlando Figes' Buch vermittelt eine authentische, unmittelbare und sehr persönliche Sicht auf den Gulag von innen und auf den Alltag unter Stalin. Es liest sich wie ein Roman, basiert aber auf historischen Fakten: dem Briefwechsel und langen Interviews, die er ab 2007 mit dem betagten Paar geführt hat. Dem Historiker ist nach mehreren erfolgreichen Büchern wieder einmal das Kunststück gelungen, wissenschaftliche Recherche mit literarischer Qualität zu verbinden. "Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne" ist keine schwer verdauliche geschichtswissenschaftliche Abhandlung über Strukturen und Diskurse, sondern ein lesbares und lesenswertes Buch für alle. Dass Geschichtsschreibung auch Erzählkunst sein kann, hat Orlando Figes hier erneut demonstriert. Welche persönliche Botschaft er mit seinem jüngsten Werk verbindet, formuliert er in Berlin so: "Die menschliche Größe von Sweta und Lew, das ist das Wichtigste an diesem Briefwechsel. Und auch an meinem Buch."

Orlando Figes lehrt Geschichte am Birkbeck College in London. Sein neues Buch "Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne" ist bei Hanser Berlin erschienen, 375 Seiten, 24,90 €. Auf Deutsch gibt es von Figes auch: "Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland" und "Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug".