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Brasiliens Wähler überraschen sich selbst

Kersten Knipp6. Oktober 2014

Der erste Wahlgang führt in Brasilien zu einer Stichwahl, die allen abgegebenen Prognosen trotzt. Analysten und Kommentatoren versuchen nun, sich auf das Wählervotum einen Reim zu machen.

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Die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff und ihr Herausforderer Aécio Neves, 10.6. 2014
Brasiliens amtierende Präsidentin Dilma Rousseff und ihr Herausforderer Aécio Neves

Mit diesem Ergebnis hatte niemand gerechnet: Marina Silva von der Partido Socialista Brasileiro (PSB - "Brasilianische Sozialistische Partei), die während des Wahlkampfs als größte Herausforderin der amtierenden Präsidentin Dilma Rousseff gehandelt worden war, holte nur gut 21 Prozent der Stimmen. Dafür sprachen sich die Wähler zu fast 34 Prozent für Aécio Neves, den Kandidaten der Partido da Social Democracia Brasileira (PSDB - "Partei der brasilianischen Sozialdemokratie") aus. Kaum jemand hatte Neves ein solches Ergebnis zugetraut. Statt Silva wird nun er im zweiten Wahlgang Ende Oktober gegen Rousseff antreten. Sie hatte sich mit 42 Prozent der Stimmen zwar als stärkste Kandidatin behaupten können, muss sich nun aber auf einen harten Wahlkampf einstellen.

Das Ergebnis sei typisch für junge Massendemokratien, schreibt der Analyst Vinicius Mota in der Zeitung Folha de São Paulo: diese ließen in der Regel keine verlässlichen Verhaltensmuster an den Wahlurnen erkennen. Das gelte auch für Brasilien, dessen Bevölkerung nach der langen Militärdiktatur erst zum siebten Mal über das Präsidentschaftsamt entschieden habe.

Wahllokal in Rio de Janeiro, 6.10.2014 (Foto: AFP/Getty Images)
Run auf die Wahllokale: Szene aus Rio de JaneiroBild: Vanderlei Almeida/AFP/Getty Images

Schelte für Meinungsforschungsinstitute

Nach Ansicht vieler Beobachter gehören in jedem Fall die brasilianischen Meinungsforschungsinstitute zu den großen Verlierern dieser Wahl. Zwar hatten sie in der Woche vor der Wahl steigende Werte für Neves gemessen. Dennoch präsentierten sie weiterhin Silva als größte Herausforderin für Präsidentin Rousseff. Die brasilianischen Wähler seien zwar wechselhaft und legten sich oft erst im letzten Moment fest, sagt der Politikwissenschaftler Pedro Fassoni von der Katholischen Universität São Paulo. "Trotzdem liegt dieses Ergebnis weit jenseits der üblichen Fehlermargen."

Kritik an Marinas Wahlkampf

Marina Silva habe sich selbst ein Bein gestellt, schreibt Marcelo Leite von der Zeitung Folha de São Paulo. Dabei habe sie sehr gute Ausgangschancen gehabt. Diese seien nicht zuletzt biographisch begründet: Silva wurde als Tochter einer afrobrasilianischen Familie am Amazonas geboren und engagierte sich an der Seite des 1988 ermordeten Umweltschützers Chico Mendes für den Erhalt des brasilianischen Ökosystems. Dies hätte ihr eine hohe persönliche Glaubwürdigkeit beschert. Zu Beginn des Wahlkampfs schien es zudem, dass sie die Stimmen all jener auf sich vereinen könnte, die im Juni 2013 für eine ausgewogenere Sozialpolitik auf die Straße gingen. Doch deren Anliegen habe Silva im Wahlkampf dann schwächer vertreten als erwartet, so Leite.

Auch die ihr zugeschriebene Kompetenz auf anderen Themengebieten habe sie kaum genutzt. So sei die engagierte Umweltschützerin dadurch unglaubwürdig geworden, dass mit Beto Albuquerque ein der brasilianischen Agrarlobby nahestehender Vizekandidat benannt worden sei. Auch habe sich Silvas Eintreten für die Interessen der dunkelhäutigen Brasilianer im Wahlkampf verflüchtigt.

Marina Silva im Wahllokal, 5.10.2014 (Foto: Reuters)
Abgeschlagene Dritte: Marina SilvaBild: Reuters/Sergio Moraes

Silva, die für den im August 2014 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommenen Spitzenkandidaten Eduardo Campos einsprang, habe zudem auch nicht sämtliche Spitzenkräfte der PSB hinter sich vereinen können.

Neves und der Geist der Opposition

Die PSDB, die Partei von Aécio Neves, habe sich ganz anders präsentiert, sagt der Politikwissenschaftler Pedro Fassoni. "Die PSDB ist sehr gut organisiert. Die Partei ist bestens aufgestellt, und zwar in sämtlichen brasilianischen Bundesstaaten." Zudem konnte Neves auf die Schützenhilfe seines Parteifreundes Fernando Henrique Cardoso zähen. Cardoso war von 1995 bis 2002 Präsident Brasiliens. Zu seiner größten politischen Leistung zählt die Überwindung der galoppierenden Inflation, die das Land über Jahre in ihrem Griff gehalten hatte. Derzeit ist die Inflation mit 3,6 Prozent zwar vergleichsweise niedrig. Trotzdem hatte Neves sie zum Wahlkampfthema gemacht.

Ebenso nutzte er den jüngsten Korruptionsskandal, der das Land derzeit erschüttert. Der reicht bis in die höchsten Kreise der Partido dos Trabalhadores (PT) von Dilma Rousseff: Anfang September, mitten im Wahlkampf, hatte ein wegen Geldwäsche verurteilter ehemaliger Manager des staatlichen Ölkonzerns Petrobras schwere Korruptionsvorwürfe gegen das Unternehmen und zahlreiche Politiker erhoben.

"Neves´ Wahlkampfauftritte waren von einem viel stärkeren Oppositionsgeist geprägt als die von Silva", sagt Fassoni. "Während Silva sich oftmals sehr vage und unbestimmt äußerte, gewann Neves die Sympathien all jener, die mit der Regierung Rousseff unzufrieden waren."

Harter Wahlkampf in der zweiten Runde

Nach Einschätzung Fassonis wird sich Dilma Rousseff auf einen harten Wahlkampf einstellen müssen. Rund zwei Drittel der Wähler Silvas würden voraussichtlich für Neves stimmen, erwartet er. Für Rousseff entscheide sich wahrscheinlich nur ein knappes Viertel der Anhänger Silvas.

Das Ergebnis des zweiten Wahlgangs könnte darum knapp werden, schreibt Vinicius Mota in der Zeitung Folha de São Paulo. Es könne darauf hinauslaufen, dass beide Parteien verstärkt um Macht und Posten feilschen. "Das hieße, dass die Politik alten Stils weiterhin die Spielregeln bestimmen würde." Erfreulich sei das nicht.

Dilma Rousseff im Wahllokal, 05.10.2014 (Foto: Reuters)
Nach der Wahl ist vor der Wahl: Dilma RousseffBild: Reuters/Paulo Whitaker

Allerdings, so Mota weiter, sei diese Entwicklung immer noch besser als jene, die bei einem eindeutigen Sieg einer der beiden Parteien denkbar sei: eine unumschränkte Machtfülle des Wahlgewinners. "Ein solcher kleiner Zar könnte die gesamte Machtbalance der Republik aus den Fugen geraten lassen."