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Der Mythos Lula bröckelt

Astrid Prange21. Juni 2013

Die Massenproteste in Brasilien stellen der Regierung der Arbeiterpartei PT ein schlechtes Zeugnis aus. Und die Kritik richtet sich nicht nur gegen die amtierende Staatspräsidentin Dilma Rousseff.

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Protestierende in Brasilien (Foto: Reuters)
Bild: Reuters

Die Massenproteste gegen Korruption und teure WM-Stadien in Brasilien weiten sich immer stärker zu einer nationalen Regierungskrise aus. Staatspräsidentin Dilma Rousseff berief ihr Kabinett am Freitag (21.06.2013) zu einer Dringlichkeitssitzung ein. Nach dem Ansturm auf das Gebäude des Außenministeriums in der Hauptstadt Brasília bei den Demonstrationen am Donnerstagabend befürchtet die brasilianische Regierung mitten im Confederation Cup eine Eskalation der Gewalt.

"Dilma durchlebt gerade ein politisches Inferno", meint Adriano Diogo, Abgeordneter der brasilianischen Arbeiterpartei PT im Landtag vom Bundesstaat Sao Paulo. Es sei kein Zufall, dass die Staatspräsidentin bei der Eröffnung des Confed-Cups im neuen Stadion von Brasília ausgepfiffen wurde. Es gebe viele politische Kräfte in Brasilien, die eine Wiederwahl der Präsidentin bei den Wahlen im Oktober 2014 verhindern wollten.

Die Begeisterung ist verflogen

Die brasilianische Arbeiterpartei PT ist seit mittlerweile zehn Jahren in Brasilien an der Macht. Seit dem Amtsantritt von Brasiliens ehemaligem Gewerkschaftsführer Luiz Inácio Lula da Silva am 1. Januar 2003 durchlebt das aufstrebende Schwellenland atemberaubende Veränderungen: Millionen von verarmten Brasilianern stiegen dank umfangreicher Sozialprogramme in die untere Mittelschicht auf. Ihre zusätzliche Kaufkraft und die Nachfrage nach brasilianischen Produkten am Weltmarkt bescherten dem südamerikanischen Land einen über mehrere Jahre hinweg anhaltenden Wirtschaftsboom.

Brasiliens Staatspräsidentin Dilma Rousseff (Foto: EVARISTO SA/AFP/Getty Images)
Brasiliens Staatspräsidentin Dilma Rousseff gerät zunehmend unter DruckBild: E.Sa/AFP/GettyImages

Doch mittlerweile ist die Euphorie verflogen, und der Mythos von Übervater Lula bröckelt. Schlimmer noch: Sein politisches Erbe wird für Nachfolgerin Dilma Rousseff zunehmend zur Last. Als Lula 2007 die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 nach Brasilien holte, verzeichnete das Land ein atemberaubendes Wirtschaftswachstum von fünf Prozent. Mittlerweile haben sich die Prognosen für 2013 auf rund zwei Prozent abgeschwächt, die Preise für Mieten und Nahrungsmittel explodieren, genauso wie die Kosten für die WM. Brasília reagierte und versuchte mit subventionierten Benzinpreisen und Steuernachlässen für die einheimische Automobilindustrie die Wirtschaft anzukurbeln.

Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva mit seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff bei einem Wahlkampfauftritt im Oktober 2012 in Sao Paulo (Foto: NELSON ALMEIDA/AFP/GettyImages)
Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva mit seiner Nachfolgerin Dilma RousseffBild: AFP/Getty Images

Stimmenkauf im Parlament

Doch die Wähler zeigen sich undankbar: Bereits bei den Gemeinderatswahlen im Oktober 2012 verlor die PT trotz Wahlkampfhilfe von Ex-Präsident Lula in den traditionellen Hochburgen im Norden und Nordosten in vielen Landeshauptstädten die Mehrheit. Ein Grund für die Wahlniederlage war die Verurteilung von 38 PT-Kongressabgeordneten vom brasilianischen Bundesgerichtshof im August 2012. Die Abgeordneten hatten während der Regierungszeit Lulas (1.1.2003 bis 1.1.2011) einen massiven Stimmenkauf betrieben, um Gesetzesvorhaben der PT durchs Parlament zu bringen.

Lula und FIFA-Chef Joseph Blatter 2007 bei der WM-Vergabe nach Brasilien (Foto: AP/Anja Niedringhaus)
Lula und FIFA-Chef Joseph Blatter 2007 bei der WM-Vergabe nach BrasilienBild: AP

"Die Wut der Demonstranten auf korrupte Politiker und ihre Kritik an der WM richtet sich zunehmend gegen die Regierung", konstatiert der Blogger Merval Pereira, der Kolumnen für die brasilianische Tageszeitung "O Globo" schreibt. Denn die Demonstranten würden die Regierung dafür verantwortlich machen, dass Investitionen in die öffentliche Gesundheitsversorgung, Nahverkehr und das Bildungssystem wegen der Ausgaben für die WM fehlten.

Auch Dawid Danilo Bartelt, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro, interpretiert die Proteste als Ausdruck eines angestauten Reformbedarfs. "Für eine sozialdemokratische Regierung hat sich im Bereich Grundschule und Gesundheitswesen skandalös wenig verändert", erklärte Bartelt gegenüber der DW. Brasília habe darauf spekuliert, dass sich die neue Mittelschicht Bildung und Gesundheitsversorgung auf dem privaten Markt zukaufe. "Meine Kritik ist", so Bartelt, "dass die Regierung sich dadurch schleichend durch die Hintertür aus der Verantwortung stiehlt".

Wütende Proteste vor dem privatisierten Maracana-Stadion in Rio de Janeiro (Foto: Joscha Weber/DW)
Wütende Proteste vor dem privatisierten Maracana-Stadion in Rio de JaneiroBild: DW/J. Weber

Ohnmacht der Opposition

Nach Ansicht von Bartelt sind die Proteste auch ein Zeichen für die Schwäche der Opposition im brasilianischen Parlament. Die sozialen Bewegungen, die die Rechte von Landlosen und Indios vertreten, seien von der PT vereinnahmt worden. "Der Protest gegen die teuren Stadien kontrastiert mit der Lethargie der traditionellen Organisationen", erklärt Bartelt. Die Landlosenbewegung sei total ruhiggestellt, und die Gewerkschaften säßen quasi mit am Kabinettstisch: "Durch diese Lethargie ist zivilgesellschaftliches Vakuum entstanden."

In der PT mehren sich angesichts der Massenproteste die selbstkritischen Töne. "Wir haben uns geirrt, als wir dachten, dass materielle Fortschritte für den Dialog mit der Jugend ausreichen", räumt Edinho Silva, Vorsitzender der PT in Sao Paulo, in der Tageszeitung "O Globo" ein. Dies sei definitiv nicht der Fall. Die Veränderungen und Forderungen erforderten eine neue politische Agenda.

Bischof Kräutler (Foto: dpa)
Bischof KräutlerBild: Picture alliance / dpa

Kritik von der Kirche

Der bekannte österreichische katholische Bischof Erwin Kräutler, der seit 1980 in der Diözese Xingu im Amazonas für die Rechte von Indios kämpft, betrachtet die Arbeiterpartei mittlerweile nicht mehr als Verbündeten: "Ich bin total enttäuscht von der Regierung", sagte Kräutler kürzlich im Gespräch mit der DW. Lula und Dilma sprächen von Fortschritt und Entwicklung, aber in der Amazonas-Stadt Altamira beispielsweise sei im Schulwesen, in der Gesundheitsversorgung und bei der öffentlichen Sicherheit nichts passiert. Seine Empfehlung: "Man muss Lula ein bisschen entmystifizieren."