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"Es gibt keinen jüdischen Exodus aus Europa"

Barbara Wesel19. April 2015

In Westeuropa nehmen Angriffe mit antisemitischem Hintergrund zu. Viele Juden würden Europa deshalb verlassen, warnen jüdische Vertreter. Dem widerspricht Jonathan Boyd vom Institut für Jüdische Studien im DW-Interview.

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Jonathan Boyd - Foto: JPR/Boyd
Bild: JPR/Boyd

Deutsche Welle: Herr Boyd, in dieser Woche haben Forscher der Universität Tel Aviv festgestellt, dass die Angriffe auf Juden im vergangenen Jahr stark zugenommen haben, allen voran in Frankreich und an zweiter Stelle in Großbritannien. Sehen wir hier ein einheitliches Phänomen?

Ich glaube, der Hauptgrund, warum wir Antisemitismus am häufigsten in Frankreich und Großbritannien beobachten, ist, dass dort die meisten Juden leben. Es hat mit der Statistik zu tun. Aber der Grund für den Anstieg der Vorfälle 2014 ist vor allem der Gaza-Konflikt im Sommer des Jahres, der zu Feindseligkeiten und manchmal Gewalt gegen französische und britische Juden geführt hat. Auf der anderen Seite, glaube ich, gibt es zwischen beiden Ländern wichtige Unterschiede. Wir beobachten in Frankreich weit mehr islamistische Gewalt gegen Juden als irgendwo anders in Europa. Über die Gründe kann ich nur spekulieren. Das mag teilweise mit der Art der Integration zu tun haben, mit der wirtschaftlichen oder Beschäftigungssituation in beiden Ländern, teilweise mit der jeweiligen politischen Lage. Rechte nationalistische Parteien sind in Frankreich traditionell viel erfolgreicher als in Großbritannien. Und dann spielen teilweise vielleicht noch ethnische und politische Unterschiede in der muslimischen Bevölkerung beider Länder eine Rolle.

Sie erwähnten den Gaza-Konflikt als Grund für den Anstieg antisemitischer Gewalt im vorigen Jahr - war er der Hauptauslöser?

Das ist mein Gefühl - und das sehen wir auch anhand der Daten: Wenn der Konflikt in Israel ausbricht, kommt es zu einem riesigen Anstieg antisemitischer Vorfälle auf den Straßen Europas. Die beiden besten Beispiele sind der Winter 2008/09 und der Sommer 2014, als der Konflikt ähnlich eskalierte. Zwischen diesen beiden Tatsachen gibt es eindeutig einen Zusammenhang.

Sprechen deshalb die israelischen Forscher von "Wellen von Antisemitismus"?

Tatsächlich beobachten wir einen starken Anstieg in diesen bestimmten Zeiträumen. Sobald der Konflikt einige Wochen später vorbei ist, fallen wir auf ein normales Niveau solcher Vorfälle zurück. Es gibt Schwankungen, aber das sind eher Ausschläge als ein linearer Anstieg von Antisemitismus im Laufe der Zeit.

Bedeutet das, dass hier keine Änderung in den Meinungen und Haltungen gegenüber Juden in Westeuropa zugrunde liegt?

Moshe Kantor, Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses - Foto: EJC
Moshe Kantor: "Jüdisches Leben in Europa hat einen Wendepunkt erreicht"Bild: EJC

Die Zahlen geben dafür keinen wirklichen Beweis her. Es gibt natürlich die Sorge, wenn antisemitische Vorfälle sich häufen, dass Menschen mit antisemitischen Tendenzen eher dazu neigen, sie auszudrücken. Ich glaube, es ist noch nicht genug Zeit vergangen um festzustellen, ob es einen echten Anstieg beim Antisemitismus gibt oder nicht.

Wie ist es mit dem Anstieg des "klassischen Antisemitismus", der in der israelischen Studie auch beklagt wird?

Was die Tel Aviver Forscher damit meinen, sind wohl klassische antisemitische Darstellungsweisen, vor allem bildhafte Darstellungen wie in Karikaturen. Ich glaube, dass solche Bilder zunehmend benutzt werden, um Israel und Israelis zu diffamieren. Es geht hier weniger um eine Rückkehr des "klassischen Antisemitismus" im Sinne des christlichen Mittelalters oder der Rassenideologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, sondern um den Einsatz antisemitischer Bildbegriffe, um eine neue Form von Antisemitismus auszudrücken, der vor allem Feindschaft gegen Israel widerspiegelt.

Moshe Kantor, der Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses hat gesagt, das jüdische Leben in Europa habe einen Wendepunkt erreicht. Und Premierminister Benjamin Netanjahu hat nach dem Anschlag in Paris vom Januar erklärt, es sei Zeit für französische Juden, nach Israel auszuwandern. Gibt es Anzeichen dafür, dass jüdische Gemeinden in Europa tatsächlich auf gepackten Koffern sitzen?

Ich denke nicht, dafür gibt es noch keine Beweise. Ein paar Juden gehen weg, aber es sind wenige. Auch wenn 2014 mehr französische Juden das Land verlassen haben als je zuvor, stellen diese Migranten weniger als 2 Prozent der gesamten jüdischen Bevölkerung in Frankreich dar. Insgesamt sind die Zahlen im Verhältnis sehr niedrig. Was Großbritannien angeht, wandern sogar mehr Juden ein als weggehen. Es ist unterschiedlich. Ich glaube man kann nicht von einem "Exodus der Juden aus Ägypten" sprechen, dafür gibt es keine Zeichen. Auf der anderen Seite gibt es eine zunehmende Besorgnis über den steigenden Antisemitismus. Und es ist wahrscheinlich, dass mehr Menschen abwandern werden, wenn es weitere islamistische Anschläge gibt.

Andererseits haben politische Führer wie Angela Merkel, Manuel Valls und David Cameron sich sehr stark gegen Antisemitismus und extremistischen Islamismus ausgesprochen. Sie haben ihre Unterstützung für die jüdischen Gemeinden unterstrichen und erklärt, dass sie es für ein totales Versagen ihrer Politik hielten, wenn die jüdische Bevölkerung auswandern würde. Ich glaube, es gibt zwar mehr Besorgnis bei der jüdischen Bevölkerung als in der Vergangenheit, aber bisher noch keine Anzeichen für eine Massen-Auswanderung oder einen kritischen Wendepunkt bei den jüdischen Reaktionen auf den Antisemitismus.

Jonathan Boyd leitet das Institut für Jüdische Politikstudien (JPR) in London. Er hat moderne jüdische Geschichte studiert und einen Doktortitel in Erziehungsphilosophie erlangt. Danach war er in Israel, Paris, London und New York für verschiedene jüdische Organisationen und Forschungseinrichtungen tätig.