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Bildergeschichten: Tränengas im Niemandsland

Tillmann Bendikowski31. März 2014

Wir stellen jede Woche ein Bild vor und erzählen seine Geschichte. Diesmal gehen wir zurück in das Jahr 1988: Staunende DDR-Grenzer an der Berliner Mauer

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Berliner Mauer Potsdamer Platz 1988
Bild: ullstein bild/Stiebing

Dieser Ausblick war bekanntlich kaum einem DDR-Bürger möglich: An der Berliner Mauer hochklettern, sich oben gemütlich abstützen und dann in aller Ruhe dem Treiben im Westteil der Stadt zusehen. Dort geht es an diesem sonnigen 20. Juni 1988 gerade hoch her, Polizisten gehen nämlich mit Tränengas gegen die Besetzer eines Grundstücks vor. Das sogenannte "Lenné-Dreieck", knapp vier Hektar groß und nahe des Potsdamer Platzes gelegen, ist von linken Demonstranten besetzt. Und die liefern sich heftige Auseinandersetzungen mit der West-Polizei. Diese DDR-Grenzer haben sich derweil ihre Gasmasken aufgesetzt und schauen nun staunend zu.

Das Kuriose: Das betroffene Gelände ist in diesen Tagen irgendwie weder Ost- noch West-Berlin. Eigentlich Territorium der DDR, war es beim Mauerbau ausgespart worden, seither ragt es wie ein Zipfel in West-Berliner Gebiet. 1988 einigen sich beide Stadthälften (wie schon zweimal zuvor) auf einen begrenzten Austausch von solch kleineren unbewohnten Gebieten. Er soll am 1. Juli 1988 vollzogen werden. Auch das "Lenné-Dreieck" (das an einer Seite an die Lenné-Straße grenzt) ist betroffen: Der West-Berliner Senat freut sich über diesen kleinen Zugewinn – bald soll eine Autobahn hier entlang führen.

Doch Umweltschützer und Linksalternative sind dagegen. Ende Mai 1988 strömen etwa 200 von ihnen auf das kleine Gebiet an der Mauer und errichten ein so genanntes "Besetzerdorf". Der Berliner Senat ist empört, aber zugleich eigentümlich machtlos: Die West-Berliner Polizei darf das besetzte Terrain nicht betreten, weil das Gebiet bis zum 1. Juli noch zur DDR gehört. So entsteht ein Konflikt auf Distanz: Steine und Molotow-Cocktails fliegen auf Polizisten, die mit Tränengas und dem Einsatz von Wasserwerfern antworten. Ost-Berlin schaut zu, greift aber nicht ein.

Am Stichtag 1. Juli 1988 schließlich darf die West-Berliner Polizei das Spektakel im Niemandsland beenden. Das Gelände wird geräumt. Einige Dutzend Besetzer flüchten dabei spektakulär über die Mauer in den Osten, wobei ihnen die DDR-Grenzer behilflich sind. Es ist wohl die einzige "Massenflucht", die in dieser Richtung verläuft. Doch die selbsternannten Straßenkämpfer sind klug genug, nach einem von Ost-Berlin spendierten Frühstück umgehend mit der S-Bahn wieder nach West-Berlin zurückzufahren.