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Berliner Bühnenboom

Andrea Horakh22. Januar 2014

Berlins Bühnen jubeln: Für sie war 2013 ein Rekordjahr mit stark gestiegenen Zuschauerzahlen. Und auch andere Kulturinstitutionen der Hauptstadt wie Museen und Gedenkstätten boomen. Aber wer kommt und vor allem warum?

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Szene aus West Side Story - an der Komischen Oper Berlin Eine Tanzszene mit viel nackter Haut und wehenden Haaren Copyright: Komische Oper Berlin, Fotograf: Iko Freese/ drama-berlin.de
Bild: Iko Freese/drama-berlin.de

Typen, bis hinter die Zähne tätowiert, vor Kraft strotzende Muskelpakete und Frauen, die ihnen locker das Wasser reichen können: Spannung, Herz und Schmerz bis zur Raserei. Das ist "West Side Story" an der Komischen Oper Berlin. Regie führt der Intendant selbst: Barrie Kosky. Ein Publikumsrenner, nur ist der Zutritt leider Glückssache. "Ausverkauft" heißt es immer häufiger an Berlins Bühnen oder bestenfalls "Restkarten an der Abendkasse".

Eine Szene aus Il Trovatore an der Staatsoper Berlin. Anna Netrebko und Plácido Domingo umarmen sich. Copyright: Staatsoper Berlin, Fotograf: Matthias Baus
Anna Netrebko und Plácido Domingo in "Il Trovatore", Staatsoper BerlinBild: Matthias Baus

2013 war ein Rekordjahr für die Berliner Kultur, mit verblüffenden Zahlen: Die Deutsche Oper vermeldet 82 Prozent Auslastung, drei Prozent mehr als 2012, das Staatsballett erzielt 86,4 Prozent, fast fünf mehr als zuvor, und das bedeutet Rekord seit Bestehen - trotz des Streits um den scheidenden Ballettchef Vladimir Malakhov. Der Komischen Oper gelang ein Plus von unglaublichen zehn Prozent. Im Revuetheater Friedrichstadtpalast sitzen in jeder Vorstellung 1725 Gäste im Schnitt - eine sensationelle Auslastung von 91 Prozent, nicht nur, wenn man bedenkt, dass das Haus wenige Jahre zuvor am Rande des Ruins stand. Und auch Brechts Berliner Ensemble feiert mehr Besucher. Was will man also mehr?

Selbst eine auf den ersten Blick eher herkömmliche Ausstellung wie "Wien Berlin" zieht: Sie bescherte der Berlinischen Galerie einen Besucherrekord. Es läuft also bestens, die Hauptstadt brummt: 2013 - das Traumjahr! Die Zahlen erzählen vom Erfolg der Kultur, über die Gründe sagen sie allerdings nichts. Die Frage bleibt: warum?

Erfolgsrezepte - von solide bis gewagt

Berliner Bühnenboom

Für die Interpretation gibt es zwei Ansätze. Entweder wird Berlins Kultur immer besser, oder die Menschen wollen einfach immer mehr Theater, Oper, Ausstellungen. Ihre Sehnsucht nach Kultur wächst. Tatsächlich wird in Berlin sehr gute Qualität geboten, Kunst auf Weltniveau. Und es gibt eine große Vielfalt, da findet sich für jedes "Töpfle sein Deckele". Denn jedes Haus hat sein eigenes Geheimrezept, mit dem es Besucher lockt. Der Erfolg der Komischen Oper: kluge, durchaus politisch grundierte Unterhaltung, die immer auch eine Wiederentdeckung des Berlins der 20er Jahre ist, einer jüdischen Kultur, die von den Nazis vernichtet wurde. Zu sehen, wie sie zurückkommt, treibt Freudentränen in die Augen. Dieses "Vorwärts in die Vergangenheit" - eine strategische Neuausrichtung - brachte der Komischen Oper zu Recht den Titel "Opernhaus des Jahres 2013" ein. Quotenbringer: "Die Zauberflöte" als überwältigendes Multimedia-Spektakel, "Ball im Savoy" oder eben Bernsteins "West Side Story". Die Staatsoper Berlin hingegen punktete mit Stars wie Anna Netrebko und dem gealterten, dennoch überzeugenden Plácido Domingo. Wer könnte da Nein sagen?Oder die Deutsche Oper mit ihrem mutigen Wagner-Projekt mit Jugendlichen und ansonsten wenig provokanter, aber solider Kost. Insgesamt alles Bühnenereignisse, von denen man beschwingt und durchaus bereichert nach Hause wankt. Und es selten bereut, dabei gewesen zu sein.

Alltagsflüchtlinge in Berlin

Die Ballettinszenierung "The Open Square" von Itzik Galili im Staatsballett Berlin. Ein Pas de Deux vor dunklem Hintergrund. Copyright: Staatsballett Berlin, Fotografin: Bettina Stöß.
Die Inszenierung "The Open Square" mit den ersten Solisten Elisa Carrillo Cabrera und Mikhail Kaniskin - auch das Staatsballett Berlin bot 2013 SpektakuläresBild: Bettina Stöß

Es gibt aber eine zweite Wahrheit: Bekanntermaßen steigen die Besucherzahlen Berlins - und steigen und steigen. Die deutsche Hauptstadt hat Rom als Touristenattraktion längst abgehängt. Das nächste Ziel, das es einzuholen gilt, lautet: Paris. Kultur spielt als Magnet dabei eine zentrale Rolle. So sind mehr als die Hälfte der Besucher in den Berliner Kultureinrichtungen Zugereiste. Aus den Statistiken des offiziellen Tourismusportals visitBerlin geht hervor, dass 85 Prozent der Museumsbesuche auf Touristen entfallen, in den Berliner Gedenkstätten ist der Anteil mit 90 Prozent sogar noch höher. Oft kaufen sie die Kultur im Paket oder genauer: die Katze im Sack. Schließlich sagen diese Zahlen über die Qualität der gebotenen Kultur wenig aus. Die meisten Touristen kommen und wollen etwas Besonderes erleben, dem Alltag entfliehen. Da passt spektakuläre Kunst gut ins Konzept. Wie es gefallen hat, darüber erfährt man wenig.

Jenseits von Berlin

Ist Berlin da nur die Spitze des Eisbergs? Der Blick über den Tellerrand zeigt: Auch in anderen Großstädten brummtʹs, bei der Oper Leipzig zum Beispiel. Sie blickt auf ein überaus erfolgreiches Jahr zurück und steigerte die Besucherzahlen um ganze neun Prozent im Vergleich zu 2012, das entspricht 16.000 Besuchern. Ob der größere Bedarf an Kunst und Kultur ein allgemeines Phänomen ist, bleibt zu beobachten. Anzeichen dafür gibt es genügend.

2013: ein Traumjahr für die Berliner Kultur und kein Grund zum Meckern also? Was fehlt, sind die Skandale, die Buhs, die schlagenden Türen. Kurz: die Auseinandersetzung. Inszenierungen, die sich eingraben in die kollektive Erinnerung, an die wir uns noch in Jahren erfreut oder mit Schrecken erinnern werden. Kultur, die tatsächlich Geschichte schreibt. Keine Zeit also für Provokationen. Aufruhr findet woanders statt. Zertrümmern war gestern. Aber das nur am Rande. Entscheidend bleibt erst einmal, dass die Bühnen ihr Publikum finden. Ob als pures Vergnügen, Ablenkung, Gesprächsstoff, als Horizonterweiterung, Achterbahnfahrt oder als Andacht: Kultur hat Konjunktur! Berlin ist und bleibt eine Stadt der Opern, der Theater und Museen. Und das ist auch gut so. Denn im Moment strotzen die Berliner Bühnen geradezu vor Selbstbewusstsein. Zu Recht!