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Bevölkerungsschwund mit Folgen

Richard A. Fuchs4. Juni 2013

Statistiker haben entdeckt: Deutschland hat 1,5 Millionen Bürger weniger als gedacht. Die größte Korrektur trifft Berlin mit einem Minus von 180.000 Menschen. Folgen hat das vor allem für die Landeskasse.

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Foto Daniel Bockwoldt/dpa
Bild: picture-alliance/dpa

Was die Statistiker von Bund und Ländern als Ergebnis der jüngsten Volkszählung Zensus 2011 bekannt gaben, wird das Bundesland Berlin in Zukunft schwer belasten. Statt wie bislang amtlich angegeben 3,5 Millionen Einwohner leben in der deutschen Hauptstadt tatsächlich gerade einmal 3,3 Millionen Menschen.

Damit verliert Berlin auf einen Schlag rund 180.000 Bürger, was für die Regierenden mehr ist als ein statistisches Debakel. "Die alten Träume nach der Wende, dass Berlin wieder zu einer vier oder fünf Millionen zählenden Metropole wird, die sind völlig unrealistisch", sagt Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung.

Berlin ist der große Verlierer der Statistik-Überprüfung: Reiner Klingholz Foto: Klingholz
Reiner Klingholz vom Berlin-Institut für Bevölkerung und EntwicklungBild: Sabine Sütterlin

Berlin bleibt "sexy", wird aber noch ärmer

Zwar ist auch in anderen Bundesländern die Einwohnerzahl teilsweise deutlich nach unten korrigiert worden: In Deutschland leben insgesamt 1,5 Millionen weniger Menschen als in Statistiken bislang nachzulesen war. Neben einem Ansehensverlust für Europas Kreativhauptstadt kostet dieser plötzliche Bevölkerungsschwund Berlin aber vor allem eins: viel Geld. Denn weniger Einwohner, das bedeutet, dass das hochverschuldete Bundesland Berlin auch deutlich weniger Geld aus dem sogenannten Länderfinanzausgleich erhält. Über dieses System unterstützen reichere Bundesländer finanziell schwächere Mitglieder des deutschen Föderalstaats. Insgesamt wurden so allein 2012 rund acht Milliarden Euro zwischen den sechzehn Bundesländern neu verteilt. Der größte Nutznießer war mit rund 3,3 Milliarden Euro das Land Berlin, der größte Beitragszahler mit knapp vier Milliarden Euro Bayern. Im März hatten Bayern und Hessen Verfassungsklage eingereicht. Ihr Ziel: Beide Länder wollen ihre Solidaritätszahlungen für klamme Bundesländer wie Berlin oder Schleswig-Holstein reduzieren, um selbst mehr finanzielle Spielräume zu bekommen.

Gesucht und gezählt: der Zensus 2011 ist die erste Volkszählung im wiedervereinigten Deutschland Passanten gehen am Mittwoch (27.04.2011) in Frankfurt am Main an einem Plakat vorbei, das für den Zensus 2011 wirbt. Am 9. Mai ist der Stichtag für den Zensus 2011, der genaue Zahlen der Bevölkerung in Deutschland liefern soll. Foto: Arne Dedert dpa/lhe (zu dpa-Themenpaket: "Zenus 2011" vom 27.04.2011)
Werbeplakat für den Zensus 2011Bild: picture-alliance/dpa

Dass Deutschlands Schuldenhochburg Berlin jetzt auf einen Schlag rund fünf Prozent der Bevölkerung verloren hat, spielt den beiden Ländern mit ihrer Klage in die Hände. Denn die Gelder des Länderfinanzausgleichs werden nach der Finanzkraft je Einwohner berechnet. Sinkt die Einwohnerzahl wie im Fall Berlins drastisch, steigen bei gleichbleibender Wirtschaftsleistung automatisch die Steuereinnahmen je Einwohner. Damit wurde Berlin über Nacht statistisch etwas reicher.

Faktisch kämpft das Bundesland aber weiterhin gegen Rekordverschuldung und muss jetzt mit deutlich sinkenden Einnahmen aus dem Länderfinanzausgleich rechnen, weil bei statistisch reicheren Bürgern eben auch weniger Solidaritätsgeld der anderen Bundesländer fließt. "Berlin verliert am meisten", sagt Reiner Klingholz vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung über die Ergebnisse der Volkszählung. Und die Berliner Finanzverwaltung liefert die Zahlen zu dieser Einschätzung.

Rund eine halbe Milliarde Euro im Jahr dürften im öffentlichen Haushalt Berlins in Zukunft zusätzlich fehlen. Zudem drohen Rückzahlungsforderungen anderer Bundesländer, die sich zumindest einmalig auf bis zu eine Milliarde Euro anhäufen könnten. Am Montag (03.06.2013) gaben Vertreter der Bundesländer in Berlin bekannt, dass hinter verschlossenen Türen bereits über eine Reform des Länderfinanzausgleichs beraten werde. "Die Zahlen sind ein Rückschlag auf unserem Weg zu einem ausgeglichenen Haushalt", sagte Berlins Finanzsenator Ulrich Nußbaum der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Finanzielle Spielräume habe Berlin damit keine mehr. Nußbaum kündigte an, dass jetzt "alle Optionen" geprüft würden, wie Berlin höhere Einnahmen erzielen könne. Im Gespräch ist hier auch eine "Bettensteuer" oder "City-Tax", die vor allem internationale Gäste und Touristen der Hauptstadt finanziell belasten würde.

Erste Volkszählung im wiedervereinigten Deutschland

Da ist es wenig tröstlich, dass Berlin mit seinem Bevölkerungsschwund in Deutschland in bester Gesellschaft ist. In Aachen verzeichnen die Behörden 8,5 Prozent weniger Bürger, in Mannheim 7,5 Prozent. Insgesamt lässt die neue Volkszählung Deutschlands Einwohnerzahl von 81,7 Millionen auf 80,2 Millionen schrumpfen. Die Differenz rührt daher, dass es seit der Wiedervereinigung 1990 aus Angst vor Datenschutzpannen noch keine Volkszählung für Gesamtdeutschland gegeben hat. Zum letzten Mal zählten die Statistiker 1987 in der alten Bundesrepublik ihre Bevölkerung, in der DDR reicht eine solche Inventur sogar bis zum Jahr 1981 zurück.

In der Zwischenzeit wurden die amtlichen Bevölkerungsstatistiken einfach fortgeschrieben. Geburten wurden hinzugezählt, Todesfälle abgezogen. Wer nach Deutschland zuzog, wurde im Register addiert. Wer amtlich gemeldet wegzog, wurde aus der Statistik herausgerechnet. Vor allem durch Umzüge hätten sich so statistische Fehler eingeschlichen, sagt der Demografie-Experte Reiner Klingholz vom Berlin-Institut. "Insbesondere wenn Menschen ins Ausland abwandern und sich nicht hier abmelden, dann bleiben sie natürlich in der Statistik drin." Und über die Jahre habe sich das eben, ohne Korrektur, auf bis zu 1,5 Millionen Fälle bundesweit addiert.

Finanzsenator Ulrich Nußbaum muss neue Geldquellen suchen. Foto: DPA
Finanzsenator Ulrich Nußbaum muss neue Geldquellen suchenBild: picture-alliance/dpa

Trotz Statistikpannen und finanziellen Rückschlägen sieht Reiner Klingholz für Deutschlands Hauptstadt aber Licht am Horizont. Denn die Stadt habe sich als magischer Anziehungspunkt für Künstler und Kreative weltweit einen Namen gemacht. Das zeige sich seit Jahren auch im konstanten Zuwachs der Bevölkerung, sagt Klingholz. "Berlin ist eine mäßig wachsende Hauptstadt und das ist wichtig, weil das ganze Land ja mittelfristig Bevölkerung verliert."