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Belgien streitet über Sterbehilfe

Bernd Riegert13. Februar 2014

Belgiens Parlament hat die aktive Sterbehilfe für todkranke Kinder und Jugendliche erlaubt. Das Land hat bereits eine sehr liberale Regelung für die sogenannte Euthanasie. Die Ausweitung wurde trotzdem heftig diskutiert.

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Krebskranke Kinder spielen miteinander in einer Klinik (Foto: Tobias Hase dpa/lby)
Bild: picture-alliance/dpa

"Warum soll man Kindern, die unheilbar krank sind und unerträglich leiden, nicht die gleichen Möglichkeiten einräumen wie Erwachsenen?" fragt der Arzt Jan Bernheim von der Forschungsgruppe Sterbebegleitung an der Freien Universität Brüssel. Professor Bernheim möchte in Belgien Kindern das Recht auf Sterbehilfe einräumen. Denn Kinder, so der Krebsforscher, seien gerade, wenn sie schwer krank sind, erstaunlich klar und erwachsen.

"Sie sind nicht so alt, wie der Kalender das zeigt. Sie sind psychologisch älter und reifer als ihr Kalender-Alter. Deshalb hat eine Mehrheit der belgischen Kinderärzte den Wunsch, in diesen Fällen dem Verlangen nach Sterben entsprechen zu können", sagte Jan Bernheim der Deutschen Welle. In Belgien und vielen anderen europäischen Ländern wird aktive Sterbehilfe "Euthanasie" genannt. Der Begriff "Euthanasie" steht in Deutschland für den Massenmord der Nationalsozialisten an behinderten Menschen und wird nicht verwendet. In Deutschland wird deshalb von "Sterbehilfe" gesprochen.

Leidende Kinder auf Verlangen töten?

Kürzlich hatten sich 16 führende Kinderärzte in zwei belgischen Zeitungen in einem offenen Brief für Euthanasie bei Kindern eingesetzt. Eine Allianz von Religionsgemeinschaften widerspricht aber vehement. Vertreter von Katholiken, Protestanten, Orthodoxen Christen, Juden und Muslimen schrieben in einer gemeinsamen Erklärung, Sterbehilfe für Minderjährige sei aus moralischen und ethischen Gründen abzulehnen. "Ein Kind kann in Belgien kein Haus kaufen. Ein Kind kann in Belgien nicht Alkohol kaufen. Dieses Gesetz würde dem Kind erlauben, seine Tötung zu fordern. Das ist nun wirklich ein Problem", beklagt Carine Brochier vom Europäischen Institut für Bioethik in Brüssel gegenüber der DW.

Am Donnerstagabend (13.02.2014) gab das belgische Parlament nun grünes Licht für eine Ausweitung der Euthanasie auf Kinder unter 18 Jahren. Nach einer emotionalen Debatte stimmten die Abgeordneten in Brüssel mit Mehrheit für eine entsprechende Gesetzesänderung. Somit dürften Ärzte etwa krebskranken Minderjährigen auf deren erklärten Wunsch hin eine tödliche Dosis Medikamente verabreichen. Belgische Mediziner erwarten etwa ein Dutzend solcher Fälle pro Jahr.

In Belgien ist aktive Sterbehilfe durch Ärzte seit elf Jahren legalisiert. Fast 1432 Menschen haben 2012 von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Belgien hat neben den Niederlanden und Luxemburg die liberalsten Euthanasie-Gesetze in der Europäischen Union. In den übrigen EU-Staaten ist aktive Sterbehilfe sehr eingeschränkt oder verboten.

Unerträgliche Leiden bei Häftling und Transsexuellem?

Die Debatte rund um die Sterbehilfe wurde durch mehrere spektakuläre Fälle in den vergangenen Monaten angeheizt. Der Fernsehjournalist Dirk Leestmans berichtete im Oktober im Magazin "Panorama" über den Häftling Frank, dem eine Tötung auf Verlangen zugestanden wurde. Frank gab an, er leide psychisch unerträglich unter der Haft und den Zuständen im Gefängnis und wolle deshalb sterben. Mit dem Fall befassen sich noch Gerichte. Die Euthanasie wurde nicht vollzogen, aber im Prinzip genehmigt. Der Fernsehreporter fragt nun, ob mit Sterbehilfe für nicht unheilbar kranke Gefangene die Todesstrafe sozusagen durch die Hintertür in Belgien wieder möglich wird.

Für Aufsehen, auch international, sorgte Anfang Oktober der Fall von Nathan. Der 44-jährige Mann ließ sich nach einer missglückten Geschlechtsumwandlung wegen unerträglicher psychischer Leiden töten. Nathan war als Frau, Nancy, geboren worden und litt zeitlebens an seiner als falsch empfundenen geschlechtlichen Identität. 2012 ließ er sich operieren. Der neue Penis wurde vom Körper aber abgestoßen. Nathan sah sich als verstümmelt an und sagte in einem Interview mit der Zeitung "Het Laatste Nieuws": "Ich wollte kein Monster werden." Der Arzt, der schließlich die tödliche Spritze setzte, Wim Distelmans, sagte der gleichen Zeitung, die Entscheidung sei nach einem halben Jahr des Kampfes gefallen. Einfach sei sie nicht gewesen.

"Sterbehilfe gibt Sicherheit"

Die Euthanasie wegen unerträglicher psychischer Leiden werde nicht leichtfertig vollzogen, sagte dazu Professor Jan Bernheim der DW. "Wenn der Tod noch viele Monate oder Jahre entfernt liegt, dann muss man einen dritten Arzt dazu mit einbeziehen, der häufig ein Psychiater ist. Dann braucht man eine Bedenkzeit von einem Monat, also man muss einen Monat warten, bevor man das machen kann." Die Gegner dieser Form von Sterbehilfe argumentieren, man solle psychisch Kranke lieber behandeln statt sie auf deren Wunsch zu töten.

Belgien: Sterbehilfe für Kinder?

Carine Brochier vom Ethik-Institut in Brüssel warnte vor einer weiteren Aufweichung der Kriterien und Indikationen bei Sterbehilfe: "Das Angebot für Euthanasie sorgt für die Nachfrage nach Euthanasie. Je mehr man das anbietet, desto mehr fragen die Leute danach." Besser sei es, die Palliativ-Medizin weiter auszubauen, also die Begleitung des Sterbevorgangs durch Schmerzbekämpfung und einen Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen wie künstliche Ernährung und Beatmung.

Auch der Krebsarzt Jan Bernheim ist für einen Ausbau der Palliativmedizin und weist darauf hin, dass etwa 30 Prozent aller Menschen, die sich wegen unerträglicher psychischer Leiden töten lassen wollen, abgewiesen werden. Von denen, die einen positiven Bescheid haben, entscheiden sich viele weiterzuleben und die Euthanasie nur als letzte Reserve vorzuhalten, so Bernheim. "Die Mehrheit dieser Menschen lebt weiter. Die haben die Sicherheit, dass sie, wenn es gar nicht mehr geht, sterben können. Aber meistens leben sie weiter."

Die verschiedenen Medikamente, die bei der Sterbehilfe eingesetzt werden (Foto: EPA/ETIENNE ANSOTTE)
Offizieller Medikamenten-Cocktail: In Belgien können Ärzte Sterbehilfe zuhause verabreichen - das Set gibt es in der ApothekeBild: picture-alliance/dpa

"Die Gesellschaft verändert sich"

Gegner einer Ausweitung der aktiven Sterbehilfe, wie Carine Brochier, forderten eine ernsthafte Diskussion in der belgischen Gesellschaft nach elf Jahren Euthanasie-Gesetz. Die Familien der Angehörigen, Krankenhauspersonal und Ärzte würden durch das Euthanasie-Gesetz schwer belastet. Viele Ärzte weigerten sich, Sterbehilfe aktiv zu verabreichen. "Euthanasie ist nicht einfach. Es macht ja keinen Spaß jemanden zu töten. Das ist Töten und für die Betroffenen ist es nicht gut, selbst wenn es darum geht, Leiden und Schmerzen zu töten. Es bringt auch die Gesellschaft um", so Carine Brochier.

Die Zahl der nicht gemeldeten Fälle von Euthanasie sei hoch und nie richtig erforscht worden, vermutet die Mitarbeiterin des Ethik-Instituts. Sie habe mit alten Menschen gesprochen, die fürchten, nicht mehr richtig medizinisch versorgt zu werden. Sterbehilfe sei auf lange Sicht für Krankenhäuser wirtschaftlicher als jahrelange Pflege. Mit der Diskussion um die Euthanasie an Kindern und Demenzkranken im Frühstadium werde eine weitere Grenze überschritten, so Carine Brochier.