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Anschlag im Vorzeigestaat

Andreas Noll, Brüssel24. Mai 2014

Im Jüdischen Museum in Brüssel hat ein Unbekannter am Samstag drei Menschen erschossen. Der Anschlag kurz vor den Wahlen und an symbolträchtigem Ort trifft eine Gesellschaft, die als besonders tolerant gilt.

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Foto vom Anschlagort in Brüssel (Foto: Reuters)
Bild: Reuters

Drei Menschen tot, ein vierter kämpft um sein Leben: Für die jüdische Gemeinde kam die Nachricht von dem Attentat wie aus heiterem Himmel. Drohungen gegen das vor neun Jahren eröffnete Museum im Herzen Brüssels oder die jüdische Gemeinde habe es keine gegeben, bestätigte Julien Klener, der Präsident des Israelitischen Zentralrates Belgiens. Trotzdem wird in Belgien darüber spekuliert, ob das Attentat einen Tag vor den Europa-, Regional - und Parlamentswahlen einen antisemitischen Hintergrund hat. "Wir können noch keine abschließende Bewertung vornehmen, aber ein Schusswechsel an einem nicht unerheblichen Tatort deutet auf einen antisemitischen Hintergrund hin", äußert sich die belgische Innenministerin Joëlle Milquet wenig zurückhaltend. Unter den Opfern ist offiziellen Angaben zufolge ein Touristenpaar aus Israel.

Sollte sich die Vermutung bewahrheiten, würde dies ein Land treffen, das mit Antisemitismus in der Vergangenheit vergleichsweise wenige Probleme hatte - Gewalt gegen jüdische Einrichtungen gab es zwar, aber selten. Maurice Sosnowski, Präsident des Dachverbands jüdischer Organisationen, bringt seine Befürchtung auf den Punkt: "Es herrscht große Bestürzung, weil wir Zeuge des ersten anti-jüdischen Attentats in Brüssel seit dem Zweiten Weltkrieg wurden."

Juden in Belgien profitierten von offener Gesellschaft

Zusammen mit Antwerpen gilt Brüssel als Zentrum jüdischen Lebens in Belgien. Gut die Hälfte aller rund 42.000 Juden im Land lebt in der Hauptstadt. Brüssel blickt mit seinen zwölf Synagogen nicht nur auf eine lange jüdische Tradition zurück, sondern verfügt mit zahlreichen koscheren Geschäften noch heute auch über eine entsprechende Infrastruktur.

Orthodoxe Juden im Diamantenviertel Antwerpen (Foto: ARCO)
Orthodoxe Juden im Diamantenviertel in BrüsselBild: Imago

Belgien präsentierte sich von Anfang an tolerant: 1832, unmittelbar nach seiner Gründung, erkannte der Staat jüdische Gläubige als Religionsgemeinschaft offiziell an. Ähnlich wie in den Niederlanden praktizierten die Belgier schon religiöse Toleranz, als in den Nachbarstaaten Juden noch verfolgt und vertrieben wurden.

Aufarbeitung der Vergangenheit

Dass sie in Belgien sicherer leben, galt sogar für die Zeit der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg: In Belgien überlebten mehr Juden als in anderen besetzten Ländern - auch, weil große Teile der Bevölkerung pro-jüdisch eingestellt waren und viele Belgier persönliche Risiken eingingen, um Menschenleben zu retten. Mehr als 30.000 von 56.000 damals offiziell registrierten Juden konnten so dem Holocaust entkommen.

Für die Opfer der Shoah hat der belgische Staat unterdessen Verantwortung übernommen. Belgische Behörden hätten mit den deutschen Besatzern kollaboriert, das sei einer Demokratie unwürdig gewesen und habe dramatische Konsequenzen für die jüdische Bevölkerung gehabt, heißt es in einer Anfang 2013 vom Senat verabschiedeten Resolution. Bereits ein Jahr zuvor hatte die Stadt Brüssel erstmals offiziell ihre Rolle bei der Deportation von jüdischen Bürgern eingestanden.

Antisemitismus wächst

Während die Aufarbeitung der Vergangenheit von jüdischen Verbänden gelobt wird, klagen viele Belgier über einen wachsenden Antisemitismus in der Gesellschaft. Bei einer von der EU-Grundwerteagentur in Auftrag gegebenen Studie bezeichneten im vergangenen Jahr 77 Prozent der befragten Juden in Belgien den Antisemitismus im Land als sehr ernstes Problem - eine Zahl, die deutlich über dem europäischen Durchschnitt (65 Prozent) liegt. Mit 87 Prozent der Befragten konstatiert eine überwältigende Mehrheit, dass der Antisemitismus im Land in den vergangenen fünf Jahren zugenommen habe. Fast zwei Drittel der Befragten hatten zudem die Sorge, in den kommenden Monaten Opfer von Beleidigungen und Belästigungen zu werden.

Brandanschlag auf Synagoge in Brüssel (Foto: AP)
Brandanschlag auf eine Synagoge in Brüssel am 1. April 2002: Mit der Zuspitzung des Nahost-Konflikts wuchs auch die Gewalt gegen jüdische EinrichtungenBild: AP

"So ein Anschlag musste ja leider geschehen, nachdem die Zahl anti-semitischer Parolen wächst. Das ist das unvermeidbare Ergebnis eines Klimas des Hasses", kommentierte der Präsident der Belgischen Liga gegen Antisemitimus (LBCA), Joël Rubinfeld, die Nachricht von dem Anschlag.

Sorge vor radikalen Islamisten

Anders als die Umfrage der EU-Agentur hat eine 2011 von der Flämischen Freien Universität Brüssel erarbeitete Studie versucht, den wachsenden Antisemitismus gesellschaftlich zu verorten. An den in der Studie untersuchten niederländischsprachigen Schulen der Hauptstadt hegten demnach rund 50 Prozent der muslimischen Schüler antisemitische Gesinnungen. Für die übrigen Schüler gibt die Studie eine Quote von zehn Prozent an.

Den belgischen Sicherheitsbehörden machen derzeit vor allem gewaltbereite belgische Dschihadisten Sorgen, die nach ihrer Rückkehr aus Syrien Anschläge in der Heimat verüben könnten. Nach offiziellen Angaben sollen etwa 200 Belgier im syrischen Bürgerkrieg kämpfen oder gekämpft haben - rund 50 von ihnen sind offenbar wieder zurück nach Belgien gekehrt.

Im Vorfeld der Wahlen spielte das Thema Antisemitismus keine Rolle - auch nicht bei den Rechtspopulisten. Die in der Vergangenheit anti-semitisch eingestellte Rechtsaußenpartei Vlaams Belang verzichtet seit einigen Jahren auf anti-semitische Untertöne. Im Gegenteil: Als selbsternannte Verteidiger der "christlich-jüdischen Kultur" gegen die "arabische Gefahr" konzentrieren sich die Separatisten heute auf ein anderes Feindbild.