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"Bei jedem Reaktortyp besteht die Möglichkeit eines katastrophalen Unfalls"

Die Fragen stellte Christine Harjes9. April 2006

20 Jahre nach Tschernobyl stellen Atomkraftwerke sowjetischer Bauart noch immer ein besonders großes Sicherheitsrisiko dar. Dabei sind die Tschernobyl-Typen nicht die einzige Gefahr, meint der Physiker Helmut Hirsch.

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Der WWER-1000-Reaktor in Wolgodonsk, RusslandBild: AP

DW-WORLD.DE: Spätestens seit dem Unfall von Tschernobyl gelten die Tschernobyl-Reaktoren vom Typ RBMK als besonders gefährlich. Was macht diese Reaktoren so gefährlich?

Helmut Hirsch Österreich Atomexperte
Helmut HirschBild: Helmut Hirsch

Helmut Hirsch: Eine Verstärkung der Kettenreaktion führt bei diesen Reaktoren zu einer Aufschaukelung. Das regelt sich also nicht selbst runter, wie es bei den meisten westlichen Reaktoren ist. Die Kettenreaktion wird immer stärker - das ist der so genannte positive Blasenkoeffizient. Und eine solche Leistungsexkursion hat in Tschernobyl zu dem schweren Unfall geführt. Das ist eine Schwachstelle, an der seit dem Unfall gearbeitet wurde. Es hat einige Verbesserungen gegeben, ganz beseitigt ist sie immer noch nicht. Abgesehen davon hat der RBMK auch einige andere Nachteile, beispielsweise Probleme der Versprödung mit den Druckröhren, die die Brennelemente enthalten, Schwächen des Containments (Schutzhülle; Anm. d. Red.) und verschiedene andere.

Kann man sagen, dass die RBMK-Reaktoren die gefährlichsten noch aktiven Reaktoren sind?

Ich denke, das kann man sagen und hier besteht ja auch ein sehr weitgehender Konsens, dass diese Reaktoren nicht auf westliche Standards nachrüstbar sind und stillgelegt werden müssen.

Auch die WWER 440/230-Reaktoren erfüllen nicht die im Westen geforderten Sicherheitsstandards. Wo liegen hier die Probleme?

Das ist der andere Reaktortyp, der als praktisch nicht nachrüstbar angesehen wird. Ein großes Problem ist, dass diese Reaktoren praktisch kein Containment haben. Im Falle eines Unfalls, wenn radioaktiver Dampf im Inneren eines solchen Reaktors austritt, kann das ungehindert ins Freie gelangen. Da hat es ein paar Nachrüstungen gegeben, aber das sind eher notdürftige Basteleien, die das Problem nicht wirklich in den Griff bekommen. Ein anderes Problem ist, dass das Notkühlsystem dieser Reaktoren nur sehr schwach ausgelegt ist. Auch da hat es Versuche der Nachrüstung gegeben, aber insgesamt sind diese Punkte und die Werkstoffprobleme, die es da gibt, so gravierend, dass auch diese Reaktoren als nicht nachrüstbar gelten.

Ist im Unterschied dazu eine große Verbesserung bei den WWER 440/213-Reaktoren auszumachen?

Da gibt es auf jeden Fall einen Unterschied. Die 213er sind die zweite Generation der WWER. Da gibt es eine Reihe von Verbesserungen. Das Notkühlsystem ist dort besser ausgelegt. Sie haben auch eine bessere Containment-Struktur, die allerdings immer noch hinter dem westlichen Standard zurückbleibt. Die WWER 440/213 haben kein so genanntes Volldruck-Containment, sondern haben ein Containment, das von einem Druckabbausystem abhängig ist. Das ist sehr kompliziert und auch störungsanfällig. Außerdem wurden auch von diesen Reaktoren verschiedene Werkstoffprobleme berichtet. Es gibt dort auch Probleme mit der Anordnung der Sicherheitssysteme. Die Gefahr, dass zum Beispiel bei einer Einwirkung von außen nicht nur ein Strang der Sicherheitssysteme ausfällt, sondern mehrere, ist dort besonders groß. Man kann also sagen, dieser Reaktortyp stellt gegenüber der ersten Generation eine eindeutige Verbesserung dar, hat aber sehr gravierende Schwachstellen.

Der WWER 1000 schließlich ist vergleichbar mit Reaktoren westlicher Bauart aus den 1970er Jahren. Heißt das, sie sind sicher?

Das heißt es nicht. Er ist in der Auslegung in der Tat mit westlichen Reaktoren vergleichbar. Dieser Reaktortyp hat ein Volldruck-Containment. Also muss man auch sagen, eine Verbesserung gegenüber dem 213er ist, dass die störungsanfällige Konstruktion des Druckabbausystem im Containment dort wegfällt. Aber auch bei den WWER 1000 gibt es verschiedene Probleme: Der Schutz gegen Einwirkungen von außen ist im Vergleich zu modernen Anlagen der westlichen Bauart deutlich schlechter. Es wurden auch bei den WWER 1000 Werkstoffprobleme berichtet – insbesondere im Hinblick auf die Versprödung des Reaktordruckbehälters, der ja eine ganz zentrale Komponente ist. Außerdem hat der WWER 1000 auch noch sein ganz spezielles Problem: In einem Punkt ist es wirklich eine Fehlkonstruktion, in dem nämlich der Bereich des Reaktorgebäudes, der das Containment darstellt, der also auch im Falle eines Unfalls noch einen Einschluss für eine Zeitlang gewährleisten soll, hier erhöht gebaut ist und gegenüber Durchschmelzen nach unten besonders anfällig ist. Das bedeutet, dass bei diesem Reaktortyp, wenn ein Unfall eintritt, die Wahrscheinlichkeit für ein relativ frühes Versagen des Containments und relativ großer Freisetzungen größer ist als zum Beispiel bei einem deutschen Druckwasserreaktor.

Wie schätzen Sie das Risiko eines Unfalls bei dem schnellen Brüter ein?

Der schnelle Brüter ist ein sehr risikobehafteter Reaktortyp. Es gibt eine Reihe von Problemen, die diesem Typ inhärent sind. Da besteht bei einem Unfall in der Tat die Gefahr einer atomaren Explosion. Das war einer der wichtigsten Gründe, warum der fertiggebaute Brüter in Kalkar in Deutschland nicht in Betrieb genommen wurde. Der zweite Punkt ist, dass hier mit Flüssigmetall gekühlt wird, nämlich mit Natrium. Und Natrium ist ein sehr reaktives Metall, das heftig mit Luft und Wasser reagiert. Es kann also zu Bränden kommen. Also, ich denke schon allein wegen dieser grundsätzlichen Auslegungsschwächen ist der schnelle Brüter ein Reaktor, der nicht weiter verfolgt werden sollte.

Alter, Erdbeben, Terroranschäge: Lesen Sie hier mehr über weitere Risiken!

Welche Rolle spielt das Alter für die Sicherheit von Atomreaktoren?

Alterungsprozesse spielen eine große Rolle und wir müssen davon ausgehen, dass nach 15 bis 25 Betriebsjahren die Sicherheit kontinuierlich abnimmt, weil Alterungsprozesse stattfinden und die Werkstoffe schlechter werden. Zum Teil kann dem entgegengewirkt werden, wenn die Betreiber den Aufwand machen und ein entsprechendes Alterungsmanagement durchführen, das heißt Komponenten austauschen und überwachen. Das geht allerdings nicht in allen Fällen, zum Beispiel kann ein Reaktordruckbehälter nicht ausgetauscht werden. Außerdem ist ein solches System des Alterungsmanagements aufwendig und teuer und da sind dann auch Zweifel erlaubt, ob das wirklich in allen Fällen, insbesondere in Osteuropa auch durchgeführt wird.

Nach wie vielen Jahren sollten Reaktoren Ihrer Meinung nach spätestens geschlossen werden?

Eine Laufzeit von etwa 30 Jahren ist wohl das Maximum, denn dann fängt eine deutliche Verschlechterung des Sicherheitsniveaus an. Das Risiko, das auch vorher schon gegeben ist, nimmt dann noch deutlich zu. Für mich wäre also 25 bis 30 Jahre ein Richtwert.

Welche Risiken muss man bei der Bewertung von Atomreaktoren außerdem berücksichtigen?

Bei jedem Reaktortyp, der heute in der Welt betrieben wird, besteht die Möglichkeit eines katastrophalen Unfalls mit schweren radioaktiven Freisetzungen. Die Wahrscheinlichkeit ist bei alten Reaktoren in Osteuropa sicherlich erhöht, aber auch bei den modernsten Reaktoren besteht diese Möglichkeit, sei es durch technisches Versagen, oder auch durch Einwirkungen von außen – natürliche Einwirkungen wie Erdbeben und Überflutungen oder auch böswillige Einwirkungen von Menschen. Das ist also ein Risiko, das mit der kommerziellen Atomkraftnutzung untrennbar verbunden ist. Außerdem gibt es eine Zweigesichtigkeit der Atomtechnologie: Anlagen die zivil eingesetzt werden können, können auch militärisch eingesetzt werden. Bei manchen Anlagen ist das weiter hergeholt und komplizierter, bei manchen Anlagen ist es sehr direkt möglich, etwa bei der Anreicherung, die eine Voraussetzung ist für den Betrieb von Atomkraftwerken. Da kann genau die gleiche Anlage für die Herstellung von Brennstoffen für Atomreaktoren oder auch zur Herstellung von Rohstoffen für Atombomben benutzt werden. Und ich denke, dass ist auch etwas, was den Konflikt mit dem Iran jetzt so schwierig macht. Rein technisch ist eine Anreicherungsanlage, die für militärische Zwecke gebaut wird, nicht unterscheidbar von einer, die für zivile Zwecke gebaut wird.

Seit dem 11. September scheint die Gefahr eines Terroranschlags nicht mehr unwahrscheinlich. Gibt es überhaupt Atomkraftwerke, die beispielsweise einem Angriff mit einem Verkehrsflugzeug standhalten könnten?

Da ist das Schutzniveau auch wieder unterschiedlich. In Deutschland zum Beispiel sind die neueren Anlagen vergleichsweise besser geschützt. Sie haben eine dickere Betonkuppel des Reaktorgebäudes als die älteren Anlagen. Ganz grob können wir für Deutschland sagen, einem Land mit relativ modernen Atomkraftwerken, dass etwa die Hälfte der Atomkraftwerke gegenüber einem solchen Angriff – auch schon wenn es sich um ein kleinere Flugzeug handelt - sehr verwundbar sind. Es muss also kein Jumbo-Jet sein. Die anderen Anlagen sind besser geschützt, aber auch da besteht Verwundbarkeit, falls es sich um ein sehr großes Verkehrsflugzeug handelt. Abgesehen davon dürfen wir nicht vergessen, dass die Bedrohung durch einen gezielten Absturz eines Verkehrsflugzeuges nicht die einzige ist. Es gibt andere Mittel - und da will ich gar nicht genauer werden - mit denen ein Atomkraftwerk angegriffen werden kann und da gilt auch bei den modernen Anlagen, dass es natürlich Möglichkeiten gibt, hier schwere Unfälle hervorzurufen.

Tschernobyl war bisher der größte anzunehmende Unfall. Wäre ein größerer Unfall vorstellbar?

Wenn es zum Beispiel in einem Atomkraftwerk in Deutschland zu einer Kernschmelze kommt und dabei auch frühzeitig das Containment zerstört wird, wären Freisetzungen denkbar, die noch um Einiges größer wären. Das könnte dann ein Vierfaches sein. Außerdem muss man bedenken, dass wenn ein solcher Unfall in einer dicht besiedelten Gegend in Mitteleuropa stattfindet, auch deshalb die Auswirkungen natürlich noch erheblich gravierender wären.

Was müsste passieren, um ein größeres Maß an Sicherheit gewährleisten zu können?

Ich denke, langfristig spricht sehr vieles dafür, aus der Atomenergie auszusteigen, denn auf der einen Seite sind Atomanlagen verwundbar – es kann sehr schlimme Folgen haben, wenn durch einen Angriff eine Freisetzung stattfindet – und auf der anderen Seite ist Atomtechnologie auch eine zentralisierte Großtechnologie, die vor allem von den Industriestaaten beherrscht wird und die auch militärische Bedeutung hat. Sie begünstigt also auch aus dieser Sicht eine nicht grade friedliche Entwicklung in der Weltpolitik. Von daher denke ich, dass der Ausstieg aus der Atomenergie der beste Weg wäre. Auch wenn in letzter Zeit argumentiert wird, dass die Rohstoffe kann werden. Fossile Brennstoffe wie zum Beispiel Gas sind knapp. Und wir wollen uns beim Gas nicht zu sehr von Russland abhängig machen. Da muss man dann aber sagen, dass dieses Problem auch bei der Atomenergie besteht. Atomkraftwerke brauchen Uran und es ist, glaube ich, sehr wenig bekannt, dass der wichtigste Uranlieferant für die EU auch wieder Russland ist. Also auch unter diesem Gesichtspunkt der Rohstofflieferung spricht einiges dafür, aus der Atomenergie auszusteigen. Längerfristig wird der einzige Weg in der Energiepolitik, der wirklich Voraussetzungen für langfristiges, nachhaltiges Überleben der Menschheit schafft, ein Weg sein, der auf erneuerbaren Energiequellen und auf rationeller Nutzung der Energie beruht.

Dr. Helmut Hirsch ist Physiker und als freiberuflicher wissenschaftlicher Berater für nukleare Sicherheit unter anderem für die österreichische Bundesregierung und das österreichische Umweltministerium tätig.