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"Aus der Opferrolle finden"

Andrea Grunau6. Mai 2014

Barbara John ist die Ombudsfrau der Bundesregierung für die Opfer des NSU-Terrors und ihre Hinterbliebenen. Nach einem Jahr NSU-Prozess berichtet sie im DW-Interview, welche Erfahrungen die Familien gemacht haben.

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Porträt Barbara John, Ombudsfrau der Bundesregierung für die Opfer des NSU-Terrors (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Deutsche Welle: Frau John, Sie besuchen oft mit den Opfer-Angehörigen den NSU-Prozess in München. Wie gut können sie sich als Nebenkläger einbringen?

Barbara John: Das ist ein ungelöstes Problem und wird es sicher bleiben, weil die Opfer natürlich daran interessiert sind, was bei den Ermittlungen schief gelaufen ist. Es geht um zehn ermordete Menschen. Jeder fragt sich: "Warum konnte nicht nach dem vierten oder fünften Opfer erkannt werden, wer die Mörder sind?" Das aber spielt meist keine Rolle im Prozess, sondern da geht es darum, den Angeklagten die Tatbeteiligung nachzuweisen, es geht nicht um das Behördenversagen. Ich habe oft erlebt, dass Familien beim Prozess dazu etwas sagen wollten. Das wurde dann hier und da abgebügelt mit der Bemerkung, hier könnten keine langen persönlichen Erklärungen abgegeben werden. Das ist für die Familien natürlich eine Riesenenttäuschung.

Einige Angehörige haben sich ganz zurückgezogen?

Die gibt es. Es gibt andere, die immer wieder kommen. Sie sagen: "Das bin ich meinem Vater oder meinem Sohn schuldig, dass ich dabei bin und alles tue, damit die Schuld nachgewiesen werden kann." Es gibt aber auch Angehörige, die schwer ertragen können, wenn sie als Zeugen zur Aussage verpflichtet sind. Ihnen gegenüber sitzt die Hauptangeklagte Beate Zschäpe, die nicht einmal ihren Namen im Prozess genannt hat, die total schweigt und das auch darf. Die Opfer haben mir oft erzählt: "Was ist, wenn meine Aussagen auch noch gegen uns verwendet werden von den Verteidigern, die alles umdrehen können, um die Angeklagte zu schützen?" Nach vielen schlechten Erfahrungen in den Jahren nach den Morden, als man ihre Familien verdächtigte, haben sie ein sehr ungutes Gefühl.

Anfänglich war oft die Rede von einem rauen Ton vor Gericht, wie erleben Sie den Umgang des Vorsitzenden Richters mit den Nebenklägern?

Das hat sich gebessert, der Vorsitzende Richter Götzl hat aus meiner Sicht dazu gelernt. Auch für ihn ist natürlich ein Prozess mit so vielen Nebenklage-Anwälten und über 50 Nebenklägern ein Novum. Er musste lernen, dass er gerade mit diesen Familien einen Umgangston pflegen muss, der sie nicht weiter verletzt oder wieder ihr Misstrauen hervorruft. Das ist am Anfang nicht ganz gelungen, sie wurden abgebürstet mit Bemerkungen wie "Das tut hier nichts zur Sache". Inzwischen klingt das alles zivilisierter und verständnisvoller.

Wie haben Sie die Aussagen der Angehörigen von Mordopfern erlebt?

Uns oben auf der Tribüne hat das immer sehr berührt. Nicht selten standen uns Tränen in den Augen, weil wir gespürt haben, wie stark es bei den Familien alles wieder aufwühlt, welche inneren Kämpfe sie austragen müssen, sich dem auszusetzen, und wie sehr der Verlust natürlich weiter schmerzt. Deswegen ist die Aussage immer eine sehr große psychische Anstrengung für die Familien.

Was Ismail Yozgat, der Vater von Halit Yozgat, gesagt hat, ist beispielhaft für andere. Er hat seinen sterbenden Sohn gefunden, kurz nachdem er erschossen wurde. Er ist gleich zu ihm gestürzt, hat ihn in den Arm genommen. Er erzählte davon: "Er antwortete nicht, er konnte nichts sagen! Er ist in meinen Armen gestorben." Es war eine solche Qual für ihn, das nachzuerleben, dass wir alle am liebsten nach unten gelaufen wären und ihn in den Arm genommen hätten. Das war eine sehr erschütternde Situation.

Wie wichtig ist es für Angehörige, vor Gericht zu sprechen?

Es ist sicher ein wichtiges Motiv zu wissen: "Wir sitzen jetzt mit zu Gericht. Wir sind das unserem Angehörigen schuldig, dass wir hier sind und für ihn kämpfen, damit die Schuldfrage geklärt wird und das Verbrechen auch gesühnt werden kann." Wir sprechen oft nach den Verhandlungen darüber. Sie wollen und müssen auch mit dem NSU-Prozess aus der Opferrolle finden, um selbstbestimmt mit diesen schrecklichen Dingen umgehen zu können, die ihnen angetan wurden, und wieder Fuß zu fassen.

Was sagen die Familien, wie sie das erste Jahr NSU-Prozess erlebt haben?

Sehr schleppend, sehr sprunghaft mit Blick auf die Tatorte. Das hängt natürlich mit den zahllosen Zeugenvernehmungen zusammen, die durchgeführt werden müssen, so dass man nur schwer folgen konnte. Auf der anderen Seite drängt sich auch das Gefühl auf, man will der Sache auf den Grund gehen und die kleinsten Beweise zusammentragen. Das wollen die Familien auch.

Wie haben Sie die Begegnung mit den Angeklagten im Gerichtssaal erlebt?

Das ist für die meisten am Anfang kaum erträglich gewesen und war sicher ein Grund, warum sie sich erst zurückgezogen haben. Das muss man sich vorstellen: Man kommt als Angehöriger eines Mordes und die Angeklagten scherzen. Sie beschäftigen sich mit ihren Computern, gucken umher, sie machen nie eine Aussage, um zu helfen. Dieser totale Widerspruch des eigenen Schmerzes und der Gleichgültigkeit, die von den Angeklagten ausgestrahlt wird, das muss ein Mensch erst mal aushalten können.

Was war aus Ihrer Sicht gut an diesem ersten Prozessjahr?

Gut ist sicher, dass sich die Übernahme von Reisekosten der Nebenkläger geklärt hat. Das war am Anfang für mich unerträglich, ihnen sagen zu müssen: "Das tut mir leid, die Bundesregierung kann das nicht bezahlen." Das hat sich durch Spenden gelöst, offen bleiben allerdings Verdienstausfälle oder Betreuungskosten. Gut ist auch, dass oft mehrere Familien da sind, die sich austauschen können. Und gut ist, dass es inzwischen eine hervorragende Zusammenarbeit zwischen den Opferfamilien und den Nebenklage-Anwälten gibt. Positiv ist auch, dass die Familien erleben, dass die Bundesrepublik Deutschland diesen Prozess und damit auch die Situation der Familien sehr ernst nimmt und das Geschehen als etwas empfindet, das mit großem Nachdruck und in aller Öffentlichkeit auf die Anklagebank gehört, etwas worüber Recht gesprochen werden muss, egal wie hoch die Aufwendungen sind.

Was würden Sie sich anders wünschen in der Fortsetzung des NSU-Prozess?

Ich würde mir wünschen, dass die Familien, wenn sie die Kraft dazu hätten, sich häufiger einbringen könnten und das auch relevant würde für den Prozess. Damit man immer wieder erlebt: Das Auslöschen eines Lebens bedeutet unvorstellbares Leid, das die Familien über Jahre in den Abgrund gestoßen hat, aus dem sie sich nur mühsam wieder herausbewegen.

Was Rechtsradikalismus und Fremdenhass auslösen, das wird natürlich nie so deutlich, wenn die technischen Zeugen oder die Freunde und Bekannten, die Versorger des sogenannten "NSU-Trios" aussagen. Man fragt sie dann, was wann passiert ist. Aber was Fremdenhass auslöst, die Morde, die Erschütterungen, das, was Menschen angetan wird, das wird nur deutlich, wenn die Familien selbst anwesend sind.

Erfahren die Familien heute außerhalb des Gerichtssaals die Anteilnahme und Unterstützung, die sie sich lange gewünscht haben?

Wenn sich die Opfer selber an Behörden oder Organisationen wenden, von denen sie Hilfe brauchen, wird fast nie ein Zusammenhang gesehen zwischen den Schicksalen der Familien und dem Anliegen, das sie jetzt haben. Aber es besteht ein Zusammenhang, den stelle ich dann schriftlich dar.

Außerdem gibt es immer wieder Situationen, wo Menschen sie als Migranten ablehnen. Das kann jemand im Bus sein, der über Ausländer schimpft und auf sie zeigt. Das schmerzt sie jetzt noch mehr als vorher, weil die Einstellung der Menschen gleich geblieben ist. Deutschland hat sich zwar schockiert gezeigt über den NSU-Terror, aber es gab keine große Diskussion in der Art, "jetzt muss es ganz anders werden z.B. mit Vorurteilen". Das trifft sie. Nadelstiche gab es vorher auch, aber wenn es jetzt passiert, ist es schon wie ein kleines Messer, das sie verletzt.

Barbara John ist seit 2012 Ombudsfrau der Bundesregierung für die Opfer des NSU-Terrors und ihre Familien. Sie ist Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Berlin und war 22 Jahre Ausländerbeauftragte des Landes Berlin.

Das Interview führte Andrea Grunau.