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Aufruf zu Friedensmärschen in Russland

Andrej Kalich21. September 2014

Erstmals seit einem halben Jahr wollen Oppositionelle in Russland wieder gegen die Ukraine-Politik des Kremls und dessen Propaganda-Maschine demonstrieren. Beobachter vor Ort bewerten das Protestpotential.

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"Bringt die russischen Truppen nach Hause" steht auf einem großen Transparent, das Demonstranten vor sich hertragen (Foto: DW)
"Bringt die russischen Truppen nach Hause" - Friedensmarsch in Moskau im März 2014Bild: DW/K.Kaminski

Am 21. September sind in Moskau und anderen großen Städten Russlands Friedensmärsche geplant. Angekündigt sind in Moskau 50.000 Teilnehmer. Unklar ist, wie viele Menschen tatsächlich kommen. Es soll die erste Massenaktion von Vertretern der Opposition und der Zivilgesellschaft gegen die Einmischung ihres Landes in den Ukraine-Konflikt seit einem halben Jahr werden. Im März 2014, im Zusammenhang mit dem sogenannten "Referendum" auf der Krim über den Anschluss der Halbinsel an Russland, waren unter dem Motto "Hände weg von der Ukraine" Zehntausende im ganzen Land auf die Straßen gegangen.

Aktuelle Umfragen zeigen allerdings, dass eine große Mehrheit der Russen nach wie vor die Politik des Kremls gegenüber Kiew unterstützt. Stimmen, die das Vorgehen Moskaus nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Russland schädlich halten, sind im Lande so gut wie nicht öffentlich zu vernehmen.

Passivität und Propaganda

Nach Angaben des unabhängigen russischen Meinungsforschungsinstituts "Lewada-Zentrum" würden mehr als 80 Prozent der Russen an überhaupt keinen Massenprotesten teilnehmen, nicht einmal wenn sie in ihren Regionen stattfänden. Menschenrechtler und Oppositionelle sagen, dies sei das Ergebnis eines "erfolgreichen Kampfes" der Staatsmacht gegen jede Art von Protestbewegung. Aggressive Propaganda des Kremls sichere diesen "Erfolg".

Boris Nemzow auf einer oppositionellen Demonstration (Foto: DW)
Boris Nemzow: Politische Aktivisten und Andersdenkende werden vom Kreml zu Landesverrätern erklärtBild: DW

"Das Volk wird mit Hilfe von Agitation und Propaganda getäuscht. Dem Land wird im Ukraine-Konflikt eine militaristische Hysterie aufgedrängt", sagt der russische Oppositionspolitiker Boris Nemzow im Gespräch mit der Deutschen Welle. Hinzu komme eine "Faschisierung" der öffentlichen Meinung. "Gegen politische Aktivisten und Andersdenkende werden ekelhafte Methoden der Verfolgung angewandt und eine lügnerische Propaganda geführt. Sie werden für alle Todsünden verantwortlich gemacht und zu Landesverrätern erklärt", so Nemzow.

Schwäche der Zivilgesellschaft

Sergej Smirnow, Redakteur der Webseite "Menschenrechte in Russland", sagt, die Zivilgesellschaft in Russland sei schwach und unterentwickelt. Das sei der Hauptgrund dafür, warum es in Russland so gut wie keine Proteste gebe. "Auch im 21. Jahrhundert sind wir immer noch der effektiven Möglichkeit beraubt, die Entscheidungen zu beeinflussen, von denen unser persönliches Schicksal, aber auch das unserer Gesellschaft und unseres Landes abhängen", sagt er der DW. "Wo sind unsere Institute der Zivilgesellschaft, die Alarm schlagen, wenn sich eine Gefahr für die Menschenrechte auch nur andeutet, und erst recht, wenn es schon zum Tod von Menschen gekommen ist?"

Smirnow zufolge werden Nichtregierungsorganisationen seit Monaten von den Behörden zunehmend unter Druck gesetzt. "Man versucht sie als 'fünfte Kolonne' und 'ausländische Agenten' darzustellen. Sogar die Organisation der Soldatenmütter wurde so gebrandmarkt", sagt Smirnow wütend. Seiner Meinung nach will man den Russen vermitteln, dass es sinnlos und schädlich ist, die eigene Meinung öffentlich und konsequent zu vertreten.

Afghanistan als Vergleich

Demonstration gegen Zensur in Russland im April 2014 (Foto: DW)
Im April 2014 demonstrierten in Moskau Oppositionelle gegen die Zensur in den russischen MedienBild: DW/A. Khan

Der russische Oppositionspolitiker Wladimir Ryschkow glaubt, die Protestbewegung in Russland sei schwach, weil die meisten Menschen keine Notwendigkeit sähen, nach objektiven Informationen zu suchen. "Die Russen werden seit einem Jahr mit dem Massenmedium Fernsehen einer massiven Propaganda unterzogen und sie neigen dazu, ihr zu folgen", sagt Ryschkow der DW.

Auf die Frage, was geschehen müsse, damit sich die Sicht der russischen Öffentlichkeit auf die militärische Beteiligung Russlands an dem Konflikt in der Ukraine ändert, zieht Ryschkow einen historischen Vergleich: "Ich kann mich noch gut an den Krieg in Afghanistan erinnern, der zehn Jahre dauerte. Anfangs sorgte er für keine Unruhe unter den Bürgern der Sowjetunion. Zu einem Vertrauensverlust in die sowjetische Führung kam es erst, als in der UdSSR Soldaten nicht mehr lebendig zurückkehrten und Abertausende sowjetische Familien davon betroffen waren."

Wirtschaftliche Folgen

Ein möglicher Faktor, der zu einer nachlassenden Unterstützung der Ukraine-Politik des Kremls führen könnte, sei die Wirtschaft, meint Ryschkow. "Welchen Preis Russland für seine anti-ukrainische Politik zahlen wird, wird man wohl erst nach und nach begreifen, wenn die wirtschaftlichen Schwierigkeiten wie Rubel-Verfall, Arbeitslosigkeit, Preissteigerungen und Lebensmitteldefizite zunehmen", so der Politiker.

Sein Weggefährte Boris Nemzow ist überzeugt, dass sich die Lage erst dann ändern wird, wenn die Menschen in Russland wahre Informationen bekommen. "Im Osten der Ukraine herrscht kein Bürgerkrieg, sondern Russland kämpft dort gegen die Ukraine. Man muss den russischen Bürgern die reichlichen Beweise zeigen, dass im Osten der Ukraine russische Soldaten kämpfen. Wenn die Öffentlichkeit objektive Informationen über diesen Krieg erhält, wird die Anti-Kriegs-Bewegung an Dynamik zunehmen", zeigt sich Nemzow überzeugt.